Chapter Text
Geplant war – zumindest von Schillers Seite – dass er, sobald die Handwerker ihr o.k. wegen des Rohrbruchs gaben, für den Rest des Monats noch in seiner Wohnung bleiben würde, damit Goethe und er noch ein letztes Mal ihre Ruhe genießen konnten, bevor sie zusammenzögen, aber es stellte sich heraus, dass es für beide eine größere Ruhe war, den jeweils anderen bei sich zu haben. Und für Schiller war es eine größere Ruhe sich keine Sorgen über ein plötzliches Auftauchen der Stein machen zu müssen. Er blieb also bei Goethe.
In der Zwischenzeit stellten sie zusammen ein Inserat auf E-Bay, um jemanden zur Nachmiete zu finden, auf welches sich auch binnen weniger Stunden fast zwanzig Leute mit mittel bis stark verzweifelt bittenden Nachrichten meldeten. Schiller musste unwillkürlich darüber nachdenken, wie verzweifelt seine eigene wohl geklungen hatte. Er war unfassbar erleichtert, dass er jetzt nicht schon wieder auf Wohnungssuche war. Die Erinnerungen waren noch zu frisch, der Schmerz zu tief. Über die Wohnungsbesichtigungen der potentiellen Nachmieter:innen kümmerte sich Goethe, weil Schiller es einfach nicht übers Herz gebracht hätte, ihnen in die Augen zu schauen, während er ihnen erzählte, dass er die Wohnung nur aufgab, weil er mit seinem Partner zusammenzog, er würde die Wohnung aber auf jeden Fall vermissen, er habe sich hier immer wohl gefühlt, die Fliesen in der Küche waren letztens erst kaputt gegangen, aber da müsste man nur der Vermieterin kurz Bescheid sagen, sie würde sich sicherlich darum kümmern, da gab es nie Probleme und auch sonst sei er sehr traurig, diese Wohnung aufgeben zu müssen. Irgendwie musste die Wohnung ja weitervermietet werden.
Schiller lag kopfüber in eine Decke gewickelt auf ihrem Bett und schaute Goethe dabei zu, wie er nacheinander verschiedene Dreiteiler aus dem Schrank zog, sie halb bis ganz anzog, und sich dann wieder umentschied und einen anderen anprobierte. „Was wirst du den potentiellen Nachmieter:innen sagen? Wirst du sie anlügen?“
„Ich werde versuchen möglichst wenig zu sagen. Und hoffen, dass sie nichts fragen. Ist der Lilane zu extravagant?“
„Hmmmm, vielleicht könnten Sie diesmal einen schlichten Grauen nehmen, damit sich nicht noch einmal jemand Hals über Kopf in Sie verliebt, während Sie ihm die Räumlichkeiten zeigen.“
Goethe lachte und zwinkerte Schiller zu: „Die Grauen sind für formelle Anlässe reserviert. Und Sie haben sich von einem simplen Braunen auch nicht abschrecken lassen. Da müssen Sie mir jetzt vertrauen, dass mein Herz ganz bei Ihnen ist und bleiben wird.“
„Und meines bei Ihnen. Dann vielleicht der Blaue?“
Goethe nickte anerkennend und begann sich erneut umzuziehen. In der Zwischenzeit machte sich eine Stille zwischen ihnen breit, bis Schiller das Wort ergriff: „Haben Sie das auch bei mir gemacht?“
„Was? So lange überlegt, was ich anziehen werde? Nein, ich kam ja direkt von der Arbeit.“
„Möglichst wenig gesagt und gehofft, dass ich nichts fragen werde.“
Goethe seufzte und runzelte die Stirn: „Nein, nicht direkt. So, wie man das bei den meisten Wohnungen macht, aus denen man auszieht. Ich hatte zwar etwas Kontakt mit der Vermieterin, aber bis auf das Debakel mit der Kündigungsfrist hatte ich noch keine Auseinandersetzungen mit ihr.“
„Gut. Das möchte ich hoffen. Wobei es ehrlich gesagt nichts geändert hätte, ich hätte die Wohnung auch genommen, wenn Sie mir alles prophezeit hätten, was gekommen wäre.“
„Aus Verzweiflung oder wegen des Endes?“, lächelte Goethe, kniete sich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
***
Pünktlich zum Ende des Monats hatte Schiller alle seine Sachen (oder zumindest die Hälfte, die nicht sowieso schon bei Goethe stand) zusammengepackt. Goethes Auto hätte vermutlich ausgereicht, aber Minna und Körner wollten es sich nicht nehmen lassen, beim Auszug aus der Horror-Wohnung zu helfen. So schafften sie es auch, das dürftige Mobiliar in einem Rutsch mitzunehmen, um es wieder bei Goethe unterzustellen. Zum Dank buk Schiller allen eine Fertigpizza nach seinen besten Künsten. Goethe hatte zwar vorgeschlagen, etwas richtiges zum essen zu bestellen, wurde aber kurzerhand von Minna und Körner überstimmt, die in ihrer Wohnung, wie zuvor Schiller, keinen Backofen hatten, und sich schon den ganzen Tag auf die Pizza gefreut hatten. Als das Festmahl beendet und die Gäste heimgefahren waren, setzten sich Goethe und Schiller wieder ins Auto, um noch eine letzte Sache zu erledigen.
***
„Ich weiß gar nicht, ob wir ihn hier stehen lassen können. Selbst wenn jemand ihn kauft, wie wollen wir denn die Tür zum Treppenhaus aufmachen, um die Person herzubringen.“
„Entschuldigen Sie, aber nichts in der Welt kann mich dazu bringen, ihn noch einmal zu tragen. Ich werde die Bilder für die E-Bay-Kleinanzeigen-Anzeige machen und der Rest liegt in den Händen Fortunas.“
Ehrfürchtig standen sie vor dem Jugendstil-Schrank, dem Koloss aus Holz, der immer noch vor der Wohnung wachte. Je länger er dort gestanden war, je öfter Schiller an ihm vorbeigelaufen war, desto weniger konnte er fassen, wie sie ihn hier hoch getragen hatten, geschweige denn, wie sie denken konnten, er würde in die Wohnung passen. Ein Monument ungebändigten Optimismus. Ein Monument der Hybris. Mit einem Seufzen machte Goethe sich ans Abfotografieren, das er sehr genau nahm.
„Gehört der Schrank ihnen?“ Bertuch, der Nachbar, war hinter ihnen auf der Treppe aufgetaucht und schaute den Schrank bewundert an, als stünde dieser hier nicht seit Monaten.
„Sozusagen“, antwortete Goethe. „Noch, ja.“
„Das ist wirklich ein sehr schöner Schrank. Sehr schön. Ich hätte selbst gerne so einen, aber der beschränkte Platz in meiner Wohnung hindert mich.“
„Ja, er ist wirklich schön. Wir werden ihn aber leider hier lassen müssen, bis ihn jemand kauft und abholt. Er ist zu schwer, als dass wir ihn mitnehmen könnten“, beklagte Goethe sich, als hoffte er, Bertuch möge in seiner Wohnung doch noch Platz finden.
Dieser schob sich an Schiller vorbei zum Schrank, rüttelte an einer Tür und spähte dann fachmännisch ins Innere. „Wieso? Sie müssen doch einfach nur hier die Bolzen herausnehmen, dann lässt er sich in drei Teile zerlegen, die Sie einzeln transportieren können und dann wieder zusammenbauen. Da brauchen Sie nicht einmal Schrauben für. Früher haben die Menschen wirklich raffiniert gebaut. So nachhaltig.“
Schiller brauchte Goethe nicht anzuschauen, um zu wissen, dass er genauso fassungslos zwischen Bertuch und dem Schrank hin und her schaute. Schließlich probierte Goethe einen der Bolzen zu verschieben. Es funktionierte.
„Also, werden Sie ihn mitnehmen?“
„Er wird vermutlich nicht in mein Auto passen“, erwiderte Goethe immer noch ungläubig den Bolzen in der Hand haltend.
„Wenn Sie wollen können wir ihn in meinen Kombi laden. Es wäre doch schade drum, ihn nicht mitzunehmen. Ein so schöner Schrank. So robust. Genial konstruiert. Solche Möbel sind wirklich für die Ewigkeit gebaut.“
Goethe nickte bedächtig, schaute zu Schiller und lächelte, als wollte er ihm zu verstehen geben: ‚So wie wir‘.