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Draußen ist kein Wald mehr

Chapter 7: Der Damm

Notes:

Leute, ich kann mich gar nicht genug für eure wunderbaren, ausführlichen Kommentare und euren Input und klugen Blick auf die Figuren sowie die Hintergrundinfos zu den beiden Tatorten bedanken (wer noch keine Antwort von mir hat, bekommt sie im Laufe des Tages!). Ich hoffe, euch hier einen würdigen Abschluss von "Draußen ist kein Wald mehr" vorzulegen – ein bisschen Hoffnung inklusive. Danke an @randomhorse, die meine Testleserin war, und @Quelfy für die Einführung in meine ersten beiden Tatorte seit vielen Jahren. Liebes (Sp)Tatort Fandom, es war mir ein unglaubliches Vergnügen!

Chapter Text

Am schwarzen Brett hängt eine neue Wohnungsanzeige. Keine WG. Keine Schuhschachtel. Aber sonst auch nichts, was ihm das Herz höher schlagen lässt. Er starrt eine Weile darauf, dann heftet er sie kurzerhand ab, faltet sie und steckt sie ein, mit dem festen Vorsatz, sich in der Mittagspause drum zu kümmern.

Er ist der erste hier oben. Adam wirft seine Jacke auf seinen Stuhl, fährt seinen Laptop hoch und sitzt dann ein paar Minuten schwankend und wattig im Kopf vor Müdigkeit über seinen Tisch gebeugt. Er hofft inständig, dass ihn keiner scheinheilig nach seinem Wochenende fragt, dass seine Augenringe und seine schlechte Rasur ihm ein bisschen Schonfrist kaufen. Er massiert sich mit den Handballen die Schläfen. Vom Espresso, den er sich draußen gekauft hat, ist ihm schlecht. Vielleicht auch vom Essen gestern oder dem Stracciatella-Proteinshake irgendwann nachts, als er noch mal hoch ist und ein bisschen Sport gemacht hat, weil irgendwer im Hotel einen Höllenlärm gemacht und er eh nicht schlafen konnte. Sein Tinnitus kommt und geht.

Fuck, er hätte sich einfach krankmelden sollen. Vielleicht kann er sich noch rausstehlen.

Wie auf Zuruf taucht Esther draußen auf. Sie bemerkt ihn durch die halb geöffneten Rollos und nickt ihm zu, beschissen morgenfrisch und munter, und er richtet sich auf und nickt zurück und denkt unverdient heftig: Gott, fick dich doch. Immerhin kommt sie nicht rein. Er wartet, bis wieder Ruhe ist, dann steht er auf und geht sich auf der Toilette ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht klatschen. Die Papierhandtücher sind aus. Er wischt sich fluchend mit seinem Ärmel trocken. Sein Haar tropft noch, als Leo auftaucht. Topfrisch sieht er nur im direkten Vergleich mit Adam aus.

„Morgen“, sagt Adam, bemüht sich für ihn, locker zu klingen.

Leo brummt, nickt, setzt sich. Mehr kommt nicht von ihm. Ein Schritt rückwärts, denkt Adam und wünscht sich in sein hässliches kleines Hotelzimmer zurück, in das karge Nest, das er sich dort gebaut hat. Er überlegt, wie gut es kommt, wenn ihm vor Mittag einfällt, dass es ihm nicht gut geht. Er beobachtet Leo, wie er sich durch ein paar E-Mails arbeitet.

Ist es, wie er aussieht? Denkt Leo, er hat das Wochenende durchgezecht? Klar, er sieht so aus. Auch seine Jacke riecht noch nach Kneipe, obwohl er sie an einem Bügel ins gekippte Fenster gehängt hat, zum Durchlüften.

„Meeting in zehn“, sagt Leo in die Stille, ohne vom Laptop aufzusehen. „Alle vier.“

Adam schnieft. „Gotcha“, sagt er.

Leo sieht auf. Adam wird heiß von der Abneigung in seinem Blick, und einen Moment zittert er auf der Linie zwischen Scham und Zorn. Dann fällt er herunter, fühlt nichts von beidem. Er sollte definitiv im Hotel sein. Überall sonst außer hier.

*

Etwas auf seinem Gesicht hält Esther und Pia davon ab, ihm auch nur zu eindeutige Blicke zuzuwerfen, geschweigedenn, ihn auszufragen, wie sein Spa Weekend war. Er fragt sich, warum das erst jetzt funktioniert. Das ist ihm ein hundsmiserables Wochenende fast wert, dass wenigstens sie ihn in Ruhe lassen.

Leo fasst ihnen mit Esthers Unterstützung die Fälle zusammen und verteilt die Aufgaben unter ihnen. Matt, denkt Adam dumpf und nicht mal mehr mit Abscheu, wäre enttäuscht. Spendenbetrug, Computerkriminalität, ein Exhibitionist, der sich auf Spielplätzen rumtreibt, ein zum wiederholten Male aus der Wohngruppe abgängiger Jugendlicher.

„Ey, der Kandidat schon wieder“, seufzt Pia und betrachtet das Foto, das die Betreuer mitgeschickt haben, mit einer merkwürdigen Mischung aus Mitleid und Ärger. Es zeigt einen braunhäutigen, hochgeschossenen Jungen mit trotzigem, verkniffenem Gesicht vor einer bunten Wand, die mit grotesken Schmetterlingen bemalt ist, irgendwo in dem Heim, in dem er untergebracht ist. Syrer, Fluchtgeschichte, Vorstrafen. „Die Eltern sind echt nett.“

„Ich mach das“, sagt Leo und reicht Adam den Spendenbetrug weiter. „Wir schicken noch extra zwei Streifen raus, die Spielplätze abklappern. Esther? Gut. Wär schön, wenn wir später noch einen Zwischenstand hinkriegen, sonst morgen.“ Und damit ist er auch schon wieder weg.

„Tauschen?“, sagt Pia und schiebt die Hacking-Akte zu Adam rüber.

„Setz die Nerds drauf an, easy“, knurrt er und merkt daran, wie sie die Lippen schmal macht, feindselig wird, dass sie sich irgendwo einen neuen Strich macht auf ihrer Liste. Er will ihr sagen, dass es ein verdammter Scherz war und warum sie die jetzt plötzlich nicht mehr aushält, und ist dann so wütend über ihre Reaktion, dass er sie einfach sitzen lässt.

*

Sie schaffen keinen Zwischenstand. Pia hat Adam natürlich trotz allem beim Wort genommen und sich, nachdem sie alle Mails verschickt hat, in die IT verzogen. Leo bleibt den ganzen Tag verschwunden, auf der Suche nach dem Jungen. Esther steht zweimal in der Nähe der Tür herum, als ob sie kurz davor ist, zu klopfen und Adam zu fragen, ob er auch einen Kaffee will. Er ist schon drauf und dran, den Hörer abzunehmen und ein Gespräch vorzutäuschen, als sie endlich abzieht. Zur Strafe kommt der Anruf tatsächlich, und er muss sich eine Viertelstunde mit einer sehr unkooperativen Bankmitarbeiterin herumschlagen, bevor er endlich einen Termin mit ihrem Chef hat. Die Leute sollten springen, wenn sie Kripo hören. Matt hätte jetzt schon ausgepackt, aber der arbeitet nunmal irgendwas mit Immobilien und nicht in der sogeschimpften Wohlfahrt. Nur die Haie, die sind überall die gleichen.

Fuck, wenn er so weitermacht, kann er Kalendersprüche verkaufen, wenn das hier nichts mehr wird.

Er kauft sich auf dem Weg zur Bank einen Energydrink an der Tanke, der kühl ist und nach altem Kaugummi schmeckt. Immerhin ist das Gespräch kein kompletter Reinfall. Er verstaut die Ausdrucke geknickt in seiner Jacke und fährt dann zum Vereinssitz weiter, auf Verdacht.

Zwei Stunden später sitzt er im Feierabendverkehr, raucht bei runtergelassenem Fenster im Auto und kann nicht mehr als ein schwaches Kribbeln von Befriedigung in der Brust darüber spüren, dass er nach lediglich einem Tag schon ein Bein auf dem Boden hat, was diesen Fall angeht. Es fängt an zu regnen, als er seine Karte an die Schranke hält und auf den Parkplatz einbiegt. Jetzt, wo er nicht fährt, nicht redet, schwimmt ihm der Kopf wieder. Er sieht auf sein Handy. Schon kurz vor sechs. Er könnte längst nach Hause. Er hat nur kurz Mittag gemacht und war früh da und sowieso ist es scheißegal. Vielleicht hat Leo seine Überstunden mitgeschrieben wie ein braver Junge. Er nicht.

Draußen geht es jetzt richtig los. Das schwüle Wochenende entlädt sich in einen Regensturz. Große Tropfen trommeln blechern auf die Motorhaube. Das Präsidium verschwindet in einem grauen Schleier. Irgendwo weit weg rollt Donner an der Saar entlang. Auf dem Parkplatz spritzt Wasser wie Bodennebel. Adam hat keinen Schirm im Wagen, nicht mal eine Plastiktüte. Ist ja schließlich nicht wirklich seiner. Also fährt er den Sitz ein Stück zurück und verschränkt die Arme vor der Brust und wartet darauf, dass es etwas weniger wird, dass er die Papiere noch trocken reinkriegt. Im Rauschen hört er nicht mal mehr seinen Kopf, und das ist herrlich.

*

Jemand klopft direkt neben seinem Ohr. Adam schnellt keuchend hoch und stößt sich das Knie und fast den Kopf. Es ist stockdunkel. Der Schrank. Der Schrank. Er kriegt keine Luft. Seine Lungen sind verschlossen. Ein Licht scheint ihm ins Gesicht, fahl, weiß. Eine Taschenlampe, durch nasses Glas gebrochen.

Er sitzt im Auto. Er ist eingeschlafen, es ist Nacht geworden, und alles tut ihm weh. Seine Beine sind knieabwärts taub davon, dass er stundenlang unbequem gesessen hat, sein Arsch kribbelt, seine Schultern stechen, strahlen Schmerz hoch in seinen Kopf, als er sich aufsetzt. Sein Herz galoppiert ihm fast davon. Er hört sich japsen, kann es nicht sofort abstellen.

Ein Mann steht im sanften Nieselregen neben der Tür, lässt jetzt das Handy sinken, mit dem er geleuchtet hat, schaltet die Lampe aus. Das Display erhellt sein Gesicht. Adam sinkt der Magen noch ein wenig tiefer.

Natürlich ist es Leo.

Er wischt sich rasch über den Mund, falls er im Schlaf gesabbert hat, richtet seine Jacke. Die Papiere knistern an seiner Brust. Die Papiere. Die Bank. Der Verein. Er hat einen fürchterlichen Geschmack im Mund, als hätte er sich zwischendurch erbrochen. Sein Herz schlägt noch immer viel zu schnell. Leo hat einen kleinen Schritt zurückgemacht. Adam öffnet das Fenster halb. Kühle Luft zieht herein. Er blinzelt, wischt sich das Haar aus der Stirn.

„Alles klar?“, fragt Leo. Er kann ihm im schwachen Licht, das von den zwei Parkplatzlampen und den Leuchten am Hintereingang zu ihnen scheint, unmöglich gut erkennen, aber er lässt sein Handy aus. Er klingt vorsichtig neutral. 

Adam räuspert sich. „Ja. Sorry. Bin eingeschlafen.“ Als ob er ihm das sagen muss. „Fuck.“ Er schnieft, widersteht dem Drang, sich den Schlaf aus den klebrigen Augen zu reiben. „Wie spät ist es?“

„Kurz vor elf.“

Jetzt ist er schlagartig doch richtig wach. „Was? Fuck!“

Sein Handy, auf den letzten zehn Prozent, der Screen so grell, dass er die Augen zukneift, gibt Leo recht. Er hat knapp fünf Stunden geschlafen, länger als seit Tagen am Stück. Vielleicht seit Wochen. Fuck, wie viele seiner Kollegen haben ihn hier gesehen, auf seinem zurückgestellten Sitz schnarchend wie ein Besoffener, der mal ranfahren musste? Pia? Esther? Schlimm genug, dass ausgerechnet Leo ihn weckt. Ihm ist kochend heiß vor Scham und Wut auf sich selbst, vor Verzweiflung, wie früher, wenn er seine freien Tage an zu viel Bier verschenkt hat. Ganz früher, wenn seine Wochenende für Training und Ausruhen draufgegangen sind statt für Wald mit Leo.

Nicht, dass er was verpasst hat außer Takeout auf dem Hotelzimmer. Keine Termine und erst recht keine Dates. Er ghostet Matt, der ihn schon zweimal gefragt hat, ob er am Wochenende noch mal will.

„Shit“, sagt er nochmal, mit Vehemenz. „Ich war einfach saumüde. Kopfschmerzen. Nicht mein Tag.“ Wer will das hören? Doch nicht mal er selbst. „Was machst du noch hier?“, fragt er also Leo im gleichen Atemzug, noch eine dumme Frage, aber er ist auch gerade erst wach geworden und fühlt sich wie gerädert.

Leo hebt die Brauen. Sagt einen Moment nichts, dann nickt er über die Schulter. Sein Wagen steht auch noch da, ein paar leere Parkplätze weiter, glänzend im sanften Regen, der durchs offene Fenster auf Adams Arm fällt, seine Hand kühlt. „Bin gerade zurück“, sagt er, in einem Tonfall, den Adam schon wieder nicht einordnen kann. „Hab ihn gefunden. Najim“, fügt er hinzu, flach, und Adam erinnert sich an den Jungen, seinen stoischen Blick in die Kamera, die hässlichen Schmetterlinge auf der Wand. Unwillkürlich sieht er sich um. Leo schüttelt den Kopf. „Ich hab ihn wieder abgegeben.“

„Okay“, sagt Adam.

Sie schweigen. Leo hat sein Handy eingesteckt, weil der Regen nicht nachlässt, und wird langsam selbst nass. Auch er hat keinen Schirm.

„Hab schon ’ne Menge für die Spendensache“, sagt er, hastig, weil es ihm gerade eingefallen ist. Er zieht die zerknitterten Papiere aus der Jacke, versucht, sie etwas zu glätten. „Hab mit der Bank gesprochen, damit wir nicht auf die ganzen Anzeigen warten müssen, und mich beim Verein umgehört, die haben ein paar Ehrenamtliche, an die ich sicher rankomme.“

„Okay“, sagt Leo. „Gut. Können wir ja morgen dann drüber sprechen.“

„Klar. Okay. Ich bring es kurz noch hoch.“

Leo tritt noch einen Schritt zurück. Adam wischt sich noch einmal rasch mit dem Ärmel übers Gesicht und öffnet dann die Tür in den Regen, schwingt die kribbelnden Beine hinaus, rasch aus dem blassen Oberlicht. Seine Blase brennt, und sein ganzer Körper ist steif, starr. Er wird auf jeden Fall Rücken haben, spätestens morgen. Selbst im Schrank war es nicht so schlimm. Aber da war er ja auch noch jung und elastisch. Jetzt kann er sich die Scheiße nicht mehr leisten.

Der Regen tut gut, feine Stiche auf seinem Gesicht, seinen Händen. Er schließt den Wagen ab und schiebt sich an Leo vorbei, klopft sich auf die Brust, wo die Papiere sitzen, sagt rau: „Na, dann bis morgen.“

Leo macht ein leises Geräusch, wie ein unterdrücktes, erstauntes Schnaufen. „Ich muss auch noch rauf.“

„Was?“

„Bin gerade erst angekommen?“

Adam starrt ihn blöd an. Sein Hirn will noch nicht wieder so richtig, kann nicht umstricken, was es schon als passiert abgespeichert hat: Leo hat diesen Jungen gefunden, ist zurück ins Präsidium für sein Protokoll und hat auf dem Rückweg bemerkt, dass Adams Wagen auch noch da steht, er aber nicht oben war. „Oh“, sagt er. „Okay.“

Obwohl es das natürlich nicht ist. Sie seit dem Fall nicht mehr allein miteinander gewesen sind, ohne den Schutz des restlichen Präsidiums um sie herum, Esther und Pia immer nur einen Kaffee davon entfernt, hereinzuschneien.

Er sollte Leo wohl den Vortritt lassen, so wie die ganze Zeit, einen Rückzieher machen, aber er würde dämlich aussehen, noch mehr ins Licht rücken, was sie so gut im Schatten verstecken. Und sowieso bekommt er die richtigen Worte nicht heraus. Er steckt seinen Autoschlüssel ein und Leo schiebt die Hände in die Taschen seiner regenfeuchten Bomberjacke und sie gehen schweigend über den dunklen Parkplatz, der mit Pfützen bedeckt ist, zum Hintereingang, mit einem albernen Abstand zwischen ihnen. Leo schließt auf, lehnt sich mit der Schulter leicht gegen die Tür. Der Regen glänzt ihm im Haar. Unter der Lampe flattern Motten, hängt eine Spinne in ihrem Netz.

Im Erdgeschoss ist noch die Nachtbereitschaft, aber im Treppenhaus nach oben begegnet ihnen niemand mehr. Leo geht voraus, einen Meter, dreht sich nicht zu Adam um. Adam lockert beim Gehen seine Schultern, legt seinen Kopf nach links und rechts, starrt abwechselnd auf Leos Rücken unter der feuchten Jacke und seine Beine in der Jeans und auf seine eigenen Turnschuhe, die leise auf der Treppe quietschen. Leo drückt die nächste Tür auf, schaltet das Licht an. Die Leuchtstoffröhren über ihnen springen leise summend an. Im Flur riecht es nach Putzmittel. Es ist keiner mehr da.

„Ich geh kurz“, sagt Adam, räuspert sich, dreht zur Seite ab. „Auf, ähm, Klo.“ Leo sieht jetzt doch über die Schulter. Adam weiß nicht recht, wohin mit seinen Händen. Er muss daran denken, wie Leo sie früher immer in die Hüften gestemmt hat, wie er nicht mit Abscheu, sondern mit Wärme gedacht hat: Wie ein Mädchen. Bevor Leo darüber die Stirn runzeln, dass er ihm das gerade ankündigt, fragt Adam das erste, was ihm in den Sinn kommt: „Hast du vielleicht ’n Kaugummi?“

Leo blinzelt, erst überrascht, dann kritisch. Dann klopft er seine Jacke ab und findet in der Innentasche eine Packung. Kurz gibt er sie ihm fast, dann wirft er sie das Stück von unten. Adam fängt sie.

„Danke.“

„Behalt ruhig“, sagt Leo knapp. Adam liegt ein Kommentar auf der Zunge: So schlimm? Dann wendet Leo sich ab und Adam geht rüber zu Toiletten, fummelt zwei Stücke Airwaves aus der halb leeren Packung und wirft sie ein und steckt den Rest zu der vergessenen Anzeige in seine Hosentasche. Die Schärfe treibt ihm Tränen in die Augen, lässt den Atem in seinen Schleimhäuten brennen und bis runter in die Lunge. Er zwingt sich, weiterzukauen, während er auf Klo geht, in eine der Kabinen, weil er sich gerade lieber absetzt, als am Urinal zu schwanken. Die Putzleute haben die kleinen Milchglasfenster über den Spülkästen auf Kipp gestellt. Draußen flüstert der Regen. Eine Motte hat sich bereits hereinverirrt. Sie fliegt wieder und wieder gegen die Lampe.

Er zwingt sich, sich im Spiegel anzusehen, während er sich wäscht. Kein Wunder, dass Leo ihn für besoffen hält. Seine Lider sind schwer, seine Augen rot geädert, die Haut darunter zart und wund wie über Blutergüsse gespannt, und er kaut so hektisch Kaugummi wie Leo früher auf dem Weg zurück nach Hause. Er spült sich kalt das Gesicht und tupft es diesmal mit Tüchern statt mit dem Ärmel trocken, streicht sein regenfeuchtes Haar zurecht und spuckt das Kaugummi in den Papierkorb. Er zieht die Tür auf und sagt sich selbst mit Nachdruck: Wenn er weg ist, musst du es heute nicht tun.

Aber Leo ist noch da. In ihrem Büro brennt Licht, und als Adam langsam hinübergeht, sieht er ihn durch die aufgefächerten Jalousien an seinem Tisch sitzen.

Sein Mund fühlt sich verbrannt an, sein Atem scharf, sein Herz zu schnell. Er tastet nach den Papieren, zieht sie aus seiner Jacke, während er eintritt, um seine Hände zu beschäftigen. Leo macht sich Notizen auf einem Block und sieht nicht auf. Er hat seine Jacke ausgezogen und über den Stuhl gehängt, als würde er länger bleiben wollen. Aber vielleicht ist sie auch nur nass. Das Licht macht seine Haut warm.

Adam legt seine Papiere auf den Tisch, rückt sie zurecht. Sieht zu Leo auf und wieder runter. Soll er sich setzen? Seine eigene Jacke ausziehen?

„Wie lief’s?“, fragt er in die Stille und denkt: Fuck, Adam, halt doch die Fresse! „Mit Nahim?“

„Najim“, sagt Leo. Er sieht kurz auf, nicht feindselig, aber auch nicht gerade erfreut. „Hab ich doch gesagt. Er ist wieder zu Hause.“

„In dem Wohnprojekt?“

„Ja.“

„Wo war er? Bei den Eltern?“

Leo setzt sich auf. Stützt sich mit verschränkten nackten Armen auf die Schreibtischkante. Das T-Shirt spannt an seinem Bizeps. Er sieht Adam mit diesem Blick an, diesem fürchterlichen Blick, der ihm den Schweiß raustreibt. „Worum geht’s hier, Adam?“, fragt er ganz ruhig.

Adam steht still, fast starr hinter seinem Schreibtisch. „Nur ’ne Frage“, sagt er, so neutral er kann. „Wenn er doch offenbar ständig abhaut.“ Er fragt sich verzweifelt, ob Leo ihm anhört, wie ihm das Herz rast. Warum er ihm nicht einfach sagt, dass er die Schnauze halten soll. Irgendwer. Er selbst kann es nicht. „Und die Familie ja angeblich so furchtbar nett ist.“

Statt an die Decke zu gehen, sieht Leo ihn nur mit starrem Gesicht an. Sehr lange. Dann lehnt er sich etwas zurück, löst die Arme aus der Verschränkung und sagt mit Eiseskälte: „Formulier doch ein bisschen genauer, was du mir hier unterstellen willst.“ 

Das Herz schlägt ihm irgendwo im Hals. Seine Hände sind taub. Warum ist er nicht einfach gegangen? Warum steht er noch hier? „Ich unterstelle dir nichts“, sagt er, „ich sage nur –“

„Es ist zwar schon nach elf, aber klar, wir können gern ein bisschen Feedback machen. Bitte.“ Leos Augen blitzen, seine Lippen sind schmal und blass vor kaum unterdrückter Wut. „Erzähl mir doch, wie ich meinen Job machen soll.“

„Ich habe nicht –“

„Denkst du, du findest ’nen besseren Draht zu Kids wie Najim?“

Schweiß brennt Adam auf der Oberlippe und Wut in der Brust, völlig unversehens, immer da und immer dann geweckt, wenn er nicht damit rechnet. Sie tanzen hier auf Messers Schneide. Wissen es. „Und wenn? Würdest du mich den Fall überhaupt machen lassen?“

„Natürlich nicht“, sagt Leo, sagt es wie einen Schlag. „Verdammt, natürlich nicht, und das weißt du auch!“

Adam schnauft, lacht wütend gegen den Knoten in seinem Hals. Ihm schwindelt. „Okay“, sagt er. „Okay. Cool. Okay. Und jetzt? Was, bin ich dir für alles außer Spendenscheiße zu kaputt?“

Einen Moment bringt er Leo damit ins Stolpern. Kann selbst nicht fassen, dass er es als erster gesagt hat. Leo hat sich vorgelehnt, unterm Tisch die Fäuste geballt. Seine Wangen haben rote Flecken. Sie starren sich an, fassungslos, dann sagt Leo rau, leiser als eben noch: „Ich hätte dich nicht decken sollen. Dann würdest du hier nämlich gar nichts mehr machen.“

Und einfach so ist ihnen damit beiden die Luft raus. Leo atmet schwer aus und lässt den Blick fallen, als ob er es nicht hätte sagen wollen, tausend Dinge, aber nicht das, weil es jetzt, wo es im Schweigen keine Selbstverständlichkeit mehr ist, plötzlich monströse Ausmaße annimmt. Adams vor Wut angespannten Schultern sinken herab. Er keucht leise. Kleine helle Punkte tanzen in seinen Augenwinkeln. Leos Name sitzt ihm quer im Hals. Alle Worte, die er sagen muss, die er sich immer noch nicht zurechtgelegt hat, aber die doch da sind: Du hättest nichts davon jemals für mich tun sollen.

„Warum hast du nicht angerufen?“, sagt Leo, den Blick auf seinen Händen. „Fuck, Adam, warum hast du mich nicht einfach angerufen?“

Adam öffnet den Mund und ringt um Worte. Leo sieht ihn nicht an. Das hilft. Er denkt: Ich durfte nicht. Ich wollte. Ich dachte, du rufst an. Ich hatte Angst. „Um dir Raum zu geben“, sagt er, dünn und klein, und weiß nicht, ob man das im Deutschen so sagt, und ob es nicht einfacher wäre, wenn er Englisch sprechen könnte.

Leo verzieht den Mund, sieht auf. Sein Gesicht eine einzige, müde Anklage. Kurz ist Adam sicher, dass er ihn anschreien wird. Aber er ist ganz leise geworden. „Für was?“, sagt er.

Adam starrt ihn hilflos an. „Um sauer zu sein.“ Aber das ist nicht das Wort für das, was er getan hat, indem er nichts getan hat. Er weiß es auch ohne Leos fassungslosen Blick. „Um mich zu hassen.“

Leo starrt ihn an, schüttelt halb den Kopf, sagt heiser: „Fuck. Fuck, Adam.“ Er sieht weg, starrt irgendwo in den dunklen Raum, und jetzt weiß er wirklich nicht mehr, was er noch sagen soll, weil das das Falsche war, soviel ist ihm klar.

„Es tut mir leid“, fängt er an, viel zu spät, „ich weiß, ich hab –“

Leo steht auf, so plötzlich, dass Adam verstummt, schnappt sich seine Jacke und rempelt hart in den Schreibtisch, als er überstürzt dahinter hervortaucht. Er ist schon fast an der Tür. Adam folgt ihm ohne Nachzudenken, greift nach ihm, sagt seinen Namen, irgendwas. Leo wirbelt herum und prallt von ihm weg gegen die Tür. Er ist leichenblass. Adam weicht geschockt zurück. Leo tastet nach der Klinke, drückt seine Jacke vor die Brust. Adam riecht seinen Schweiß.

„Leo“, sagt er.

„Hör auf“, schnappt Leo.

Adam hebt beschwörend die Hände, geht noch einen halben Schritt zurück, weil Leo wie ein in die Ecke gedrängtes wildes Tier aussieht. „Bitte“, sagt er. Die Panik zerrt an ihm. Seine Stimme ist gepresst davon, zittert an den Vokalen. „Bitte, ich – bitte. Leo. Bitte. Gib mir – lass mich – I know I fucked up – ich –“

Hör auf“, wiederholt Leo, lauter, und Adam hört auf. Leo umklammert die Türklinke mit weißer Hand. Noch hat er sie nicht gedrückt. Hält sie wie einen Abzug. Er ringt mit sich. Lang. Länger, als je irgendwas gedauert hat. Aber er geht nicht. Noch nicht. Irgendwann sagt er: „Dass du nicht geschossen hast.“ Er sieht ihn an, unter gewaltiger Anstrengung. Hält seinen Blick mit glänzenden Augen. Seine Brust hebt und senkt sich hektisch, obwohl er halbwegs ruhig spricht. „Vielleicht hätte ich dir das verziehen.“

Adam will sprechen, will flehen, aber er weiß, dass er den Mund halten muss. Jetzt wirklich. Ihm liegen Steine im Magen. Sein Herz tut fürchterlich weh. Es strahlt ihm überall hin aus.

„Weißt du, warum ich zurück bin?“, sagt Leo. „Statt Urlaub zu nehmen? Oder die Evaluation abzuwarten?“

Er wagt ein winziges, hoffnungsloses Kopfschütteln.

„Weil ich jeden Morgen dachte, Esther ruft heute an und sagt mir, dass du dich wieder zurück nach Berlin verpisst hast. Dass du mir das nochmal antust. 15 Jahre“, würgt Leo hervor, fletscht die Zähne, als ob er Schmerzen hätte. „15 scheiß fucking Jahre.“ Er schnappt nach Luft, und dann plötzlich lässt er seine Jacke fallen und ist mit einem großen Schritt vor ihm und stößt ihm mit einer Wucht vor die Brust, dass Adam rückwärts stolpert und sich mit rudernden Armen fängt, bevor er in Leos Schreibtisch krachen kann. Adrenalin schießt ihm ins Blut, schaltet seine Nerven auf Festbeleuchtung und die Welt auf Hintergrund. Er fängt sich taumelnd, keuchend, die Sohlen ihrer Schuhe quietschend auf dem polierten Boden. Er glotzt Leo an, der zitternd vor ihm steht, das Haar im Gesicht, seine Züge entgleist und entstellt, die Fäuste geballt. „Ich dachte, du hättest dich umgebracht, du verdammtes Arschloch“, japst er. „Kein Wort von dir! Keine scheiß Karte, kein Anruf, kein Hey, Leo, mir geht’s super, hoffe, du hältst noch dicht! Wenn ich mir nicht gerade in die Hose gemacht habe, dass sie mich für Mordversuch holen kommen oder dein Vater vielleicht verreckt und doch noch Mord draus wird, dann, weil ich dachte, du hast dich irgendwo vor einen fucking Zug geschmissen! Schien mir wie eine geile Idee zwischendurch, wenn ich bei ihm am Bett saß und dachte, jetzt hab ich mir genug Mut angesoffen, dass ich ihm den Stecker ziehen kann! Ich hab einen fucking Abschiedsbrief geschrieben! Ich hab mein Testament geschrieben, Adam, mit 17, und weißt du was? Weißt du was?“ Die Venen auf seiner Stirn treten hervor, die Sehnen an seinem Hals, und er spuckt ein wenig beim Schreien. „Selbst darin hab ich mich an deine Geschichte gehalten!“

Adam weicht vor ihm zurück, aber nicht rechtzeitig. Schwerfällig. Leo stößt ihn so hart, dass er diesmal doch gegen den Schreibtisch prallt, ihn ein gutes Stück verschiebt. Er könnte sich dahinter retten, aber jetzt bleibt er stehen, zwingt seinen Körper in Starre. Sein Herz schlägt Amok, alles spannt sich in ihm in der Erwartung, dass Leo zuschlagen wird, jeden Moment, und dass er schon seit vielen Jahren nicht mehr so schwächlich ist wie damals.

Leo steht vor ihm, keuchend und schnaufend wie ein gehetztes Pferd. Er sieht überhaupt nicht gut aus. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß. Er öffnet und schließt die Fäuste. Dann tritt er vor ihn. Es kostet Adam jeden Funken Beherrschung und Disziplin, die ihm jahrelanges Training eingeprägt und die er selbst mit fünfzehn Jahren Vernachlässigung nicht ganz losgeworden ist, nicht vor ihm zu zucken. Sein Vater wäre stolz, denkt er.

Leo schlägt ihn nicht. Immer noch nicht. Ringt nur nach Atem. Schließt die Augen und schwankt leicht im Stehen. Adam müsste nur den Arm ausstrecken, um ihn zu halten. Leo hat eine Gänsehaut, die er von hier sehen kann.

„Sag was“, flüstert Leo, seine Stimme ein hässliches Krächzen. Er wird morgen heiser sein. Er hat die Augen immer noch zu. „Sag was.

Aber er kann nicht. Bei Gott, er kann nicht. Alles ist ihm bleischwer. Er kann nicht mal die Hand heben, um noch mal zu versuchen, Leos Schulter zu berühren, wie früher, ein kurzer Druck, wie im Wald. Leo öffnet die Augen, blinzelt ihn an. Presst die Zähne zusammen, dass sein ganzes Gesicht davon spannt, Schmerz, Enttäuschung, Wut, hebt die Hand, ballt die Faust. Adam steht still. Leo schnauft durch die Zähne, schluckt, würgt daran. Seine Augen tränen vor Schmerz. Er legt Adam die Hand auf die Brust, wo er ihn eben noch hart gestoßen hat, mitten auf sein Herz, unter die Jacke. Es hämmert ihm in die Handfläche, und er nimmt sie wieder weg, schluckt noch mal, ein trockenes Klicken hinten im Hals. Er strahlt verschwitzte Hitze ab, fast überdecktes Deo, und Adam riecht, dass auch er einen Energydrink hatte. Auf seiner Brust ist ein heißer Fleck, wo Leo ihn berührt hat. 

Leo macht es noch mal. Greift in die klamme Jeansjacke. Seine Knöchel hart durch Adams Pullover. Er lässt ihn wieder los. Die Schreibtischkante drückt Adam hinten in den Oberschenkel. Leo legt ihm die Hand heiß wieder auf und winkelt den Arm eng an, als er das letzte Stück vortritt. Ihr Atem mischt sich, obwohl Adam die Luft anhält, seine Lungen nicht fühlt. Die Welt in Watte. Weg. Leo hatte keinen späten Wachstumsschub, ist die zwei, drei Zentimeter kleiner geblieben.

Leo küsst ihn, hart und plötzlich. Er greift ihn mit beiden Händen um den Kopf und drückt ihm die Daumen auf die Wangenknochen und drängt sich an ihn und Adam hält sich nur auf den Knien, weil sie irgendwie eingerastet sind. Leos heißer Atem in seinem Mund. Er greift Leos Arme und küsst ihn zurück, schiebt ihre Körper zusammen, seinen Kopf ein wenig nach hinten, ihre Lippen aneinander, ihre Nasen, Leos Bart, der ihn kratzt, seine glatten Zähne. Adams Körper ist hell und klar wie unter Strom gesetzt, von seinem Herz führt ein fettes Kabel durch seine Eingeweide in seinen Schritt, ein Bündel summender Schmerz, Erregung, Schreck. Leo krallt sich an ihm fest, ringt schnaufend nach Luft, drückt ihre Köpfe zusammen, Stirn an Stirn. Er hat die Augen fest geschlossen. Seine Wimpern sind dunkle, feuchte Striche, dicht, schön. Sein Bizeps ist kalt und klebrig verschwitzt und fast stählern unter Adams Griff. Leo keucht, dann küsst er Adam wieder, langsam jetzt und tief, mit Zunge, dass es ihm bis ins Mark geht. Seine Handflächen sind heiß und schweißnass. Adam lehnt sich vom Tisch weg, in seine Körperwärme, küsst zurück. Jetzt stehen sie so eng, dass er ihn fühlen kann, alles an ihm, endgültig hilflos und überwältigt angeturnt ist, wie aufgefüllt damit. Er kann sich nicht erinnern, wann ihm das das letzte Mal passiert ist, außer extrem high. Von Null auf Hundert. Wenn Leo ihn nicht mit Hunger küssen würde, er würde aus der Haut fahren. Adam schiebt ihm eine Hand in den Nacken, der weicher wird, nicht mehr so spannt, greift ihn dort fest, wenn auch nicht so fest, wie Leo ihn umklammert, schmerzhaft. Leo, denkt er eloquent, oh Gott. Leo.

Sie küssen sich die Luft weg. Leo verharrt keuchend, drückt seine Nase in Adams Wange. Er zittert, merkt Adam benommen, und schwankt schwindelig. Seine Lippen formen Worte gegen Adams Haut. Aber er sagt nichts. Adams Puls klopft ihm flatternd gegen die Hand. Seine Finger bewegen sich an seinem Hinterkopf, in seinem Nacken, massieren ihn beinahe. Adam denkt an eine Katze im Milchtritt.

Leo lässt ihn los, ganz langsam, neigt den Kopf und tritt einen halben Schritt zurück. Seine Hand streicht locker über Adams Schulter, halb geschlossen.

Er rennt nicht weg. Stürmt nicht hinaus. Adam denkt, dass er es wohl will, aber er tut es nicht, bewegt sich behutsam, als müsse er sich selbst austricksen. Seinen Fluchtinstinkt. Er wischt sich über den Mund, die rotgeküssten Lippen, den Blick gesenkt. In ihrem keuchenden Schweigen dehnt sich, was passiert ist, wächst, bekommt klare Konturen und tausend Bedeutungen. Sind sie sich plötzlich beide bewusst, wie wacklig sie in den Knien sind, und dass Leo, auch wenn Adam nicht wagt, an ihm herabzusehen, die Hose ein wenig eng ist. Etwas in ihm will lachen, zittrig und selbstironisch, weil es ihm nicht besser geht, fuck, mein Gott, aber er kann ja kaum atmen.

Wenn Adam vorher nicht wusste, was er sagen soll, dann jetzt erst recht nicht. Was ist da gerade passiert?, denkt er dämlich. What the fuck? Sein Tinnitus ist zurück, sein Herz stolpert über jeden dritten Schlag. Sein Gesicht brennt überall dort, wo Leo ihn berührt hat. Sein Mund ist feucht vom Kuss. Sein Oberschenkel sticht. Er wird einen blauen Fleck kriegen. Die Erregung liegt ihm schwarz und schwer und verblüfft im Bauch. Er holt tief Luft, vorsichtig. Dieser Moment ist aus zartem Glas. Summt schon kurz vorm Zerspringen. Alles, was er anfasst, macht er kaputt, und das hier ist zu gefährlich, um zerbrochen zu werden.

Leo sieht über die Schulter, aber da ist natürlich niemand. Diese Etage gehört ihnen. Die Nacht. Er streicht sein T-Shirt glatt, mit leicht zittrigen, vom Schweiß klebrigen Händen, obwohl Adam es nicht in Unordnung gebracht hat, und Adam wartet darauf, dass er sagt: Das war ein scheiß Fehler, verschwinde schon, lass mich endlich in Ruhe, und kein Wort zu niemandem. Dass er noch mal laut wird. Ihn jetzt wirklich schlägt.

Leo atmet schwer aus. Legt den angewinkelten Arm über die Augen wie ein Schauspieler, der sich beherrschen muss, zurück in seine Rolle. Dann lässt er ihn wieder sinken. Sieht Adam an, mit geröteten, schweren Augen, ein Blick elektrisch mitten in ihn hinein, und nickt winzig mit dem Kopf, in Richtung Tür, dass er es fast nicht sieht. Wendet sich ab und verlässt das Büro, lässt Adam wie vom Blitz getroffen zurück, die brennende Lampe im Rücken. Er sieht durch die Lamellen des Rollos, wie Leo den Flur hinab geht und um die Ecke außer Sicht verschwindet. Das Gebäude ist ganz still. Die Tür zu den Toiletten geht.

Er wartet sicher ein, zwei Minuten, gelähmt, sicher, dass gleich irgendwas passiert, was ihn aufweckt. Aber es passiert nichts. Er geht Leo nach wie ein gehorsamer Schlafwandler.

*

Leo steht konzentriert übers Waschbecken gestützt, als er die Tür öffnet, blass und müde unterm grellen Oberlicht, das Haar unordentlich, frisch feucht, weil er es wie Adam vorhin gemacht hat, sich mit etwas kaltem Wasser abgespritzt. Er sieht zu Adam auf. Sie starren einander an, einen langen Moment, und endlich kann Adam ihn lesen.

Er ist verunsichert. Nervös.

Leo leckt sich die Lippen, entspannt sein Gesicht mühsam, in etwas, das wohl ein Lächeln sein soll, macht seine Augen unverwundbar. „Dachte, bevor Pia und Esther auch noch –“ Ihm bricht die Stimme weg, und er zuckt, verzieht den Mund vor Schmerz. Er zuckt mit einer Schulter. Seine Augen glänzen. Er stemmt sich vom Waschbecken hoch. „Komm her“, sagt er, in dem Ton, in dem er im Präsidium spricht, wenn er angepisst ist, rau nicht nur, weil er geschrien hat.

Adam klammert sich in den Türrahmen, weil er sicher ist, dass ihn das jetzt zu Boden streckt. Leo strafft die Schultern. Dann greift er ihn hart bei der Jacke und zieht ihn mit erstaunlicher Kraft an sich und sie küssen sich, während die Tür zufällt, jetzt hektisch und heiß statt langsam. Leo drängt ihn zurück, stößt ihn mit dem Rücken dagegen, drückt ihm, ein kleines, schrilles Keuchen, das ihn nicht mal beschämt, den Atem weg und jeden Zweifel, den er noch hat. Er ist kein guter Mann und schon gar kein vernünftiger. Wie eingeschaltet ist alles gut. Alles geil wie das erste Mal, wo man abspritzt, bevor man weiß, wie einem geschieht. Leo. Das Klo. Der Schweiß, der Gestank nach Putzmittel und Urinstein, der sich nie löst, peak fucking romance. Leo fährt ihm mit beiden Händen in die Jacke. Adam zieht instinktiv den Bauch ein, zu viel Junkfood, nicht genug Sport, tastet sich seinerseits über Leos Schultern, hart und trainiert unter seinen Fingern, breiter als früher, Leos Wirbel auf seinem nackten Rücken, wenn er sich ins Wasser bückt, die Haut sich darüber schiebt. Leo fährt ihm mit der Zunge hinter die Zähne und Adam greift ihn um die Taille und zieht sie enger aneinander, fuck it all, und sie stöhnen beide erstickt. Leo greift ihm links in den Nacken und leckt ihm den Mund, obszöne feuchte Küsse. Er schiebt die rechte Hand zwischen ihre Körper, umfasst Adam durch die Jeans. Er hebt sich hilflos in seinen Griff. Leos Blick ist wild, verschwimmt vor seinen Augen, weil sie sich so nah sind. Er knetet ihn, tastet seine Länge ab, reibt sich in kleinen Stößen gegen seinen eigenen Handrücken, heiß zwischen ihnen eingeklemmt, keucht nass gegen seine Wange. Adam presst den Hinterkopf an die Tür, stößt die Luft aus. Leo stöhnt selbst, arbeitet sich an ihm ab, er wünschte, er könnte ihn fühlen, mehr von ihm, seinen Schwanz zwischen seinen Beinen, dass es ihm fast die Sicherungen rausknallt. Er hält ihn sinnlos bei den Schultern, schnauft hilflos: „Fuck, fuck, Leo –“

Leo drückt ihm den Schwanz so fest, dass Adam nur aus Verblüffung seinen Aufschrei schluckt. Kurz ist er wieder ganz da. „Sei still“, flüstert Leo heiser und energisch, „fuck – knie dich hin.“

Adam bleibt um ein Haar das arme Herz stehen. Sein Atem stottert in der Brust. Leo lässt ihn los, nur ein Stück, und Adam sinkt in die Knie, bevor er weiß, was er da überhaupt tut. Er muss sich an der Tür abstützen. Die Fliesen drücken kalt durch seine verschwitzte Jeans. Er rückt sich rasch im Schritt zurecht, weil er schon viel zu hart ist hierfür. Leo wirft einen Schatten auf ihn. Er bewegt stumm die Lippen und starrt fiebrig auf ihn runter. Seine Hose beult sich aus, aber er macht keine Anstalten, sie zu öffnen, hat seine Befehle aufgebraucht, seinen Mut. Adam richtet sich ein Stück auf und legt Leo die Hände an die Knie. Ein bisschen Blut ist noch da, um ihm im Gesicht zu pochen. Er schwitzt, als wäre es das erste Mal, als hätte er nicht genug Nächte in Berlin so auf den Knien verbracht, er für andere und andere für ihn, als wäre er nicht gut hierin.

Es ist ja nur Leo, denkt er hysterisch und streicht ihm hoch auf die Oberschenkel, die hart unter seinen Händen sind, und dann lehnt er sich einfach vor und drückt ihm langsam und sanft das Gesicht in den Schritt, in seinen heißen, verschwitzten, wilden Geruch. Er spürt Leo heftig zucken, aber das macht nichts, solange er nicht zurücktritt, ihn nicht wegstößt. Adam presst die Nase in die raue Jeans und den Mund gegen die weiche Härte seiner Erektion, zwei Lagen Stoff. Erstmal so. Schon das lässt alles an ihm zittern: ihn riechen, ihn spüren, auf dem Gesicht, wie er unter seinen Händen bebt, obwohl Adam noch nicht mal richtig was macht, sich nur behutsam an ihm reibt. Sein Herz – oh, fuck, sein Herz.

Leos Finger zittern gegen seinen Kopf. Adam löst sich ein Stück von ihm, sieht zu ihm hoch, leckt sich die Lippen. Leos Gesicht ist rot und verschwitzt und verzerrt. Angespannt.

„Too much?“, raunt Adam. Er kriegt selbst keine besonders feste Stimme hin, auch wenn er sich nicht eben noch heiser gebrüllt hat.

Leo schüttelt den Kopf. Aber er sagt nichts, atmet nur schwer, hält sich an die Tür gestützt, engt ihn unter sich ein.

„I –“ Adam schluckt, zwingt sich, zu sagen: „Ich – ich, ähm, würd –“ Er wartet darauf, dass Leo ihn wieder unterbricht. „Würd dir gern den Schwanz lutschen“, sagt er, ganz rau und weich vor Verlangen und Sehnsucht, muss nichts spielen, nichts übertreiben. Es kommt ihm von ganz allein. „If you – wenn das – was immer du willst. Sag es mir.“ Überstürzt, über die Worte stolpernd. „Ich mach alles.“

Leo legt ihm die Hand auf den Kopf und Adam ist sich herrlich, göttlich sicher, dass er ihn jetzt an den Haaren ziehen wird, ihn lenken, zwischen seine Beine, es ihn beweisen lassen, aber Leo schwankt und stützt sich plötzlich hart auf ihn. Seine Knie geben nach. Adam schafft es gerade so, den Kopf unter seiner Hand wegzuziehen und ihn um die Hüften zu packen, ihn etwas zu stabilisieren, damit er nicht auf sie beide draufstürzt.

„Hey! Fuck, Leo!“

„Geht schon“, japst Leo, „geht schon, muss – nur kurz –“ Er klammert sich links an seine ihn stützenden Hand, rechts an die Tür. Adam rutscht zur Seite und hilft ihm, in die Hocke zu gehen und sich abzusetzen. Fuck, er ist schwer geworden, nach früher.

„Kippst du um? Brauchst du Wasser? ’nen Arzt?“

Leo schüttelt den Kopf, energisch. Er atmet sehr konzentriert. Er ist selbst sichtlich erschrocken. Adam greift seinen Arm, tastet nach seinem Puls. Er rast ihm davon. Leo schüttelt wieder den Kopf, aber Adam nicht ab. „Nur schwindelig“, murmelt er. „Hab kaum was gegessen heute. Geht gleich wieder. Lass gut sein.“

Adam lässt ihn wieder los. Leo sieht ihn nicht an. Er ist jetzt blass. Er streicht sich zittrig das Haar aus dem Gesicht, wischt sich den Mund ab, starrt auf die Fliesen. Nach einer halben Minute atmet er ruhiger. Er rutscht behutsam zurück und lehnt sich an die Wand über Eck. Winkelt die Knie an und stützt die Arme drauf. „Fuck“, sagt er schwer. Adam hockt an der Tür und wartet. Darin ist er gut. Er nüchtert rasant aus, wird in seiner Wäsche wieder schlaff, ohne viel dafür tun zu müssen. Jetzt schockt er sich selbst. Unmöglich, dass er es ihm gerade noch fast auf dem Klo im Präsidium gemacht hat. Dass sie sich so geküsst haben. Die Erregung hinterlässt eine leere, empfindliche Stelle in ihm, ein Fleck Scham, der an Erniedrigung grenzt. Dass er nicht damit allein ist, ist nur ein sehr kleiner Trost.

Es regnet immer noch, fällt Adam auf. Feine, kühle Tropfen draußen. Die Motte hat wieder rausgefunden, hat sich vielleicht irgendwo abgesetzt.

„Weißt du“, sagt Leo unvermittelt und heiser, „ich hab ein paar Sachen vergessen, von damals. Der Schock, was auch immer. Ich weiß nicht mehr genau, was wir –“ Er räuspert sich, treibt sich Tränen in die Augen davon. „Fuck. Keine Ahnung, wo wir vorher waren. Aber dann im Baumhaus? Dass ich’s endlich getan und dich geküsst hab?“ Er lächelt etwas überzeugender. Er sieht Adam nicht an, sondern irgendwo in den leeren Vorraum vor den Kabinen. Ist einen Moment ganz in der Erinnerung. „Das weiß ich noch. Ich wollte es den halben Sommer. An dem Tag, wo du mir am Fluss deinen Rücken gezeigt hast –“ Sein Lächeln bricht. Er schluckt, den Blick beharrlich von Adam abgewandt, merkt überhaupt nicht, wie er ihn anstiert. „Aber egal.“ Er reibt sich über die Augen. „Ich erinner mich. Wie ich dachte, vielleicht knockst du mich gleich aus, aber du – du –“

„Hab dich zurückgeküsst“, hört Adam sich sagen, aus weiter Ferne.

Leo sieht ihn endlich an, erstaunlich ruhig, und trotzdem kann Adam es jetzt endlich in ihm wüten sehen. „Ja“, krächzt er. „Ich hab’s nie vergessen. Nie wem gesagt. Fuck.“ Er sieht wieder weg, hoch zur Decke, als wäre da was Interessantes. „Fuck!“, sagt er nochmal, lauter und vehementer, dass es ein wenig zwischen den Kacheln hallt. Als er sich wieder Adam zuwendet, ist sein Blick hart und herausfordernd. „Ich meine, es ist scheißegal, es war nur ein Kuss, ich hatte echt andere Probleme, aber scheiße, ja, ich hab mir auch noch Sorgen gemacht, dass ich dich angeschwult habe. Dass ich dich ausgenutzt hab.“ Er grimassiert, lädt Adam ein, über ihn zu schnauben: die Wortwahl, die neben Totschlag alberne Sorge um einen kleinen Kuss. „Und das an unserem letzten Abend. Ich meine – das ist doch verrückt. Da liegt dein Vater im fucking Koma und ich – was, ich – ich meine, was stimmt denn mit mir nicht? Kannst du mir das sagen?“

„Leo –“

„Es ist alles so leicht für dich. Mein Gott. Sogar das hier, oder? Ich meine, ich hab’s mir gedacht, aber ich – ich hab dich auf Grindr gesehen“, sagt er und schockt Adam so sehr, dass er seinerseits über seinen dämlichen Gesichtsausdruck lachen muss, ein kurzer, bellender Laut, der sie beide erschreckt.

„Ich – sorry“, sagt Adam mit bleierner Zunge von einem Entsetzen, das er sich nicht erklären kann und das ihm plötzlich in allen Gliedern sitzt wie Fieber, und Leo lacht nochmal, sagt: „Why?“

Adam starrt ihn nur hilflos an. Er kann ihn noch spüren, den Geist einer heißen Berührung auf dem Gesicht, tief in ihn hinein. Sein Geruch. Seine Küsse. Seine Hand in seinem Haar.

Seine Umarmung im Auto.

Der Schnaps in seinem Mund. Waldmeister.

„Das ist so ungefähr das einzige, was dir nicht leid tun muss“, sagt Leo, in Limbo zwischen Scherz und Bitterkeit. „Klar, noch was, womit du mich damals allein gelassen hast –“ Ein Schlag, der ihm verdient die Luft nimmt. „– aber immerhin hatte ich vor, das ruhen zu lassen. Sleeping dogs und alles.“ Er starrt auf seine Hand, die seinen Unterarm kratzt, als würde er sich selbst nicht steuern. Schüttelt den Kopf.

Adam rückt ein wenig von der Tür weg, genug, dass er sie noch mit der Schulter zuhalten kann. Nicht, dass er glaubt, dass wer vorbeikommt, jetzt noch. Aber trotzdem. Er legt Leo die Hand auf den Arm. Er ist ausgekühlt. Leo sieht hartnäckig weiter auf seine Hände. Dreht den Kopf zur Seite. Ein Muskel in seinem Hals zuckt, seine Schultern einmal kurz.

Er weint noch genau wie früher.

Adam rückt etwas näher, legt ihre Arme aufeinander, ihre Schultern zusammen. Kurz spannt Leo sich, als ob er sich losreißen wolle. Er würde ihn lassen. Er müsste. Aber dann lässt er den Kopf auf die Brust fallen und fängt an zu schluchzen, leise und heftig.

„Leo –“, krächzt Adam, seine Kehle zu zugeschnürt, dass er nicht weiß, wie er Luft kriegt, geschweigedenn Leos Namen raus, aber Leo schüttelt den Kopf, würgt: „Später, fuck – später.“ Ein Flehen. Als ob er hier der Bittsteller wäre, der Kaputte. Er dreht sich zur Seite, drückt sich heftig an Adam, an seine verschwitzte Schulter, unbequem über ihre zusammengeklammerten Arm. Adam schlingt ihm den Arm um den bebenden Rücken und Leo krallt sich heulend an ihn, als alles in ihm bricht. Es schüttelt sie beide. Adam tätschelt ihn und birgt ihn an sich und lehnt das Gesicht in sein Haar, feucht von Regen, drückt die Nase in seine weiche, warme, zarte Kopfhaut. Ich bleib, formt er mit den Lippen dagegen: Ich bleib, ich bleib, wieder und wieder, übt es für Leos Später, wann auch immer das ist, wenn er keine Tränen mehr hat, wenn Adams Jacke nass ist, seine Schulter steif, wenn sie vom Toilettenboden wieder hoch müssen, zurück in die Welt, den Wald. Er versucht, mit Leo zu weinen, weil er sollte, weil er will, alles in ihm, ein schwarzer Druck in seiner Brust, aber es geht nicht, geht fast nie. Aber Leo halten kann er.

Vielleicht ist das ein Anfang.