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Iridium

Chapter 3: Splitter

Chapter Text

Eine Handvoll aufgedrehter, lärmender Kinder brach so plötzlich aus einer vorhin noch verschlossenen Tür, dass Jack keine Chance zum Ausweichen hatte – eben noch ein freier Mann, sah er sich plötzlich von grapschenden kleinen Händen und grinsenden Gesichtern eingekesselt, gekrönt von einem aufgeregten Gemurmel, als käme er soeben von der Rückseite des Mondes direkt nach Diamond City.

Jack hatte etwas an sich, das andere anzog. Das konnte mitunter... schwierig sein. Auch wenn seine anziehende Qualität für diese Kinder vor allem sein letzter Fehler war, ihnen Schokolade geschenkt zu haben wie ein gruseliger Süßigkeiten-Onkel, vor dem ihre Eltern sie hoffentlich alle gewarnt hatten.

Aber da war wieder diese Sache mit der Anziehung. Generell gab es diese gruseligen Süßigkeiten-Onkels, doch Jack konnte ja keiner von denen sein. Dafür war er zu sehr Jack.

„Bringst du diesmal Kaugummi mit?“ Ein Mädchen zog an seinem Mantel und schmierte dabei weiße Kreideflecken auf den Stoff. Und wahrscheinlich eine generöse Portion Rotz. „Bringst du Geschichten mit?“

Das mit den Geschichten war auch ein Fehler, den Jack einmal... gut, dreimal gemacht hatte. Aber heute hatte er keine Geschichten dabei, die für Kinder gedacht waren, und irgendeins dieser kleinen Biester hing an seinem Arm und kicherte, als er es höflich abzuschütteln versuchte.

„Ich habe absolut gar nichts dabei,“ brummte Jack und versuchte, den enttäuschten Chor von 'Ooohs' zu ignorieren. Er hatte so seine Probleme damit, konsequent mit Kindern zu sein. Ein ganz bisschen.

„Und was ist das?“

Eins dieser kleinen Wiesel hatte die absolute Frechheit, mit seinen klebrigen Fingern und der Geschicklichkeit eines Taschendiebs eine kleine Tafel Schokolade aus der Seitentasche seines Holsters gefummelt zu haben und nun anklagend zu schwenken, als sei Jack irgendwie verpflichtet, Süßigkeiten mit Kindern zu teilen.

Ein Geheimnis – Süßigkeiten-Onkel gaben einem gar keine Süßigkeiten. Die versprachen sie nur und aßen sie selbst. Oder spielten mit dem Gedanken, sie ewig mürrischen, aber insgesamt recht schwer widerstehlichen Latinos zu schenken. Aber keinen verfressenen Bälgern!

Richtig, gruselige Süßigkeiten-Onkels schenkten Erwachsenen Süßigkeiten. Das war nicht weniger gruselig, dafür nicht ethisch verwerflich.

„Das,“ Jack war schneller als der kleine Scheißer und bekam die Schokolade zu fassen, um sie würdevoll außer Reichweite zu heben, „ist ein Geschenk. Aber nicht für euch.“

Ein kleines Mädchen (ein anderes?) grinste ihn zahnlückig an und kreischte dann in einem unmöglich hohen, verzückten Tonfall: „Oh, Miss Zieeegler!

Jack mochte keine kreischenden Kinder. Aber er mochte es, wenn Kinder fröhlich waren, und dann kreischten sie eben gelegentlich.

Nur... Warum denn ausgerechnet zu so etwas?

Eine etwas abgekämpft aussehende blonde Frau in einem stellenweise fleckigen weißen Laborkittel tauchte im Türrahmen des triumphalen einzigen Schulgebäudes im Umkreis sehr vieler Meilen auf und klopfte sich Kreide von der Hose – als sie Jack erkannte, bogen ihre Lippen sich zu einem Lächeln. „Ist das für mich? Jack, wie lieb von dir!“

Ihr verschmitzter Tonfall ließ ihn ganz genau wissen, dass ihr klar war, wie wenig diese Schokolade für sie gedacht war, doch da Lügen bekanntermaßen eine Sünde war... Und noch viel wichtiger, da er eh nicht damit durchkommen würde... warf Jack ihr die Schokolade zu und verlor damit wenigstens einen Teil dieser klammerigen Bagage. Nicht alle, aber den Rest konnte er diskret noch abschütteln, während er durch wuselnde Kleinmenschen zu Angela herüberstakste, die jetzt ihrerseits von gierigen Kinderaugen beobachtet wurde.

Allerdings war sie besser vorbereitet.

„Zum Glück seid ihr alle noch da,“ stellte sie unbekümmert fest. „Vorhin wart ihr so schnell weg, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, euch eure Hausaufgaben zu geben-“

Die Kinder stoben auseinander wie Kakerlaken, wenn man das Licht anschaltete. Also... reguläre Kakerlaken, nicht Rad-Kakerlaken. Der Verhaltensunterschied war eklatant. Jack seufzte und vergewisserte sich, dass außer der Schokolade sonst nichts verschwunden war. „Das hättest du früher sagen können.“

„Du musst dir angewöhnen, meinen Unterricht nicht durch deine bloße Anwesenheit zu stören. Strafe muss sein.“ Angela schmunzelte und verschränkte die Arme, ganz nachsichtige und warmherzige Lehrerin.

Als ob die noch hergestellt würden heutzutage.

„Jap,“ brummte er und dachte an die Arten, wie er noch bestraft werden würde, wenn sabbelige Kinder in der Siedlung verbreiteten, dass Fräulein Angelas Freund vorbeigekommen war und ihr sogar Geschenke mitgebracht hatte.

Es war nicht mal falsch. Eigentlich war alles daran korrekt, Tarnung selbst war alles. Und obwohl sie sich darin alle einig waren, rächte es sich zuverlässig, einen romantischen Eindruck zu verbreiten. Moira hatte irgendwo auch gute (oder eher, nützliche) Eigenschaften, aber sie teilte nicht mal vorgeblich. Wenn Jack wie der weiße Ritter des Ödlands auftrumpfte, um der holden Maid Angela Schokolade (und Fusionskerne und Chemikalien und Patronen-Nachschub, aber eeh) zu verehren und damit ihr edles Herz zu gewinnen, war das keine Geschichte, von der Jack profitierte.

„Zumindest kann ich dich jetzt hereinbitten, weil die Nachbarn eh schon tratschen. Komm, du kriegst wenigstens einen Kaffee.“

Laut Nachbarschaftsmeinung war das das Mindeste, was er kriegte. Laut Jacks Meinung war es das Höchste. Man konnte Kaffee gar nicht überschätzen.

Er achtete darauf, höflich zu lächeln und Angela den Vortritt zu lassen, damit jedwede Beobachter den richtigen falschen Eindruck erhielten, dann schloss er die Tür hinter ihnen und setzte seinen Rucksack mit einem dumpfen Poltern ab. Die Gurte hatten sich irgendwann in seine Schultern gegraben und seine Füße waren wahrscheinlich mit den Stiefeln verwachsen. „Uh. Gott schütze Amerika.“

„In Ewigkeit, amen.“ Angelas in dieser Welt immer noch irgendwie weich gebliebenes Herz brachte sie dazu, Jack aus dem Mantel zu helfen (er war nicht alt, nur fertig, ganz ehrlich) und beiläufig die Hand auf seine Stirn zu drücken und auf Fieber zu überprüfen. Egal, für was sie sich ausgab, die Ärztin wurde sie nie los.

„Was ist das hier?“

Ihre Augen wurden umgehend schärfer und sie streckte sich, um Jacks Halsbeuge sehen zu können, wo sie soeben den Mantelaufschlag weggezogen hatte.

„Nichts,“ erwiderte Jack mechanisch, auch weil es wirklich nichts war. Der Weg war lang gewesen, nicht gefährlich. Also... nicht gefährlicher als sonst. Mit ein paar Kötern und Blähfliegen wurde er fertig. Sobald er seine Ausrüstung abgeworfen hatte, war er eigentlich auch zu müde, um sich zu erinnern, woran Angela da herumstocherte.

„Ghulbisse sind infektiös wie nichts Gutes, und diese Position allein...“

Abrupt bedeckte Jack die Stelle mit der Hand und trat von Angela zurück, während er noch versuchte, den anderen Arm aus dem Ärmel zu befreien. Deswegen bekam er keins von beidem so richtig hin und stieß gegen ein Pult wie ein wirklich eleganter Gentleman. Die Katze des Ödlands gewissermaßen.

Angelas Wimpern flatterten – tatsächlich wirklich elegant übrigens. „Oh.“ Sie ließ vielleicht eine halbe Sekunde die Finger von ihm, dann griff sie wieder nach dem Mantelaufschlag. „Menschliche Bisse sind auch infektiös. Ganz zu schweigen von sexueller Übertragung. Du hattest doch penetrativen Sex, oder?“

Die guten Leute von Diamond City wären entsetzt, wie knapp 'Fräulein Ziegler' solche Dinge abfragte, als ginge es sie irgendetwas an. Jack entzog sich ihr, nachdem er es endlich geschafft hatte, aus dem Ärmel zu entkommen, und warf den Mantel über ein Pult. Scheiß auf Bakterien. „Ich bin geimpft, Mom.“

„Das habe ich nicht gefragt.“

„Ich weiß.“ Jack bedachte sie mit seinem strahlendsten Lächeln, das genauso wenig zu ihm gehörte wie das ganze 'die brave Miss Ziegler'-Gewäsch zu Angela. „Also, Codes?“

Einen Moment noch schien es, als wollte Angela das nicht akzeptieren, vielleicht aus Neugier, vielleicht auch einfach um zu sehen, ob sie es konnte. Alles ist erlaubt, nichts ist geheim.

Aber wenn es nichts mit ihrem Ziel zu tun hatte, ging es Angela dennoch nichts an. Jack hatte nicht vor zu plaudern; aus Prinzip nicht. Ein weiterer Trugschluss über 'nur Jack' – er konnte so nett und freundlich sein, wie man wollte, er ließ keine Nähe zu. Wenn man sich stundenlang vergnüglich mit ihm unterhielt, ein mittelschweres Besäufnis zelebrierte oder sich gemeinsam Kugeln fing, änderte das nichts.

Er würde sich allerdings nie wieder mit Moira betrinken. Lektion für's Leben.

„Na gut.“ Angela schien verstimmt, und Jack machte eine angemessen zerknirschte Miene und offerierte schweren Herzens eine Packung Gumdrops.

Angela war eine praktische Frau, keine Heilige – sie nahm sie natürlich ohne Zögern. „Also, wie sieht die Welt außerhalb der Mauern aus, Mister?“

 

Als Gabriel zurückkehrte, wartete Jack auf ihn.

Es war so unerwartet, dass Gabriel ihn zuerst übersah – in einer Hand einen Kanister mit noch zu dekontaminierendem Wasser, in der anderen eine Schrotflinte, über der Schulter einen mutierten Mischlingsköter, brannten seine Muskeln noch vom Abstieg und seine Haut von den erbarmungslosen Strahlen der Sonne, die er eine Weile nicht gesehen hatte. Erst als er näher kam, spürte er mit dem sechsten Sinn eines Ödland-Überlebenden eine auf sich gerichtete Waffe und identifizierte erst danach das goldblonde Haar.

Ironischerweise war offene Bedrohung immer beschwichtigend. Wenn man die Waffe wenigstens sah, wusste man, wo man stand. Gabriel schnalzte scharf mit der Zunge.

Ay, hermoso. Ich bin zu Hause.“

Jacks Lächeln hatte viele symmetrische, weiße Zähne und ungewohnt harte Kanten; Gabriel spürte die ruhelose, nahezu chaotische Energie in ihm genauso sicher wie seine Waffe, und sie war ein ähnlich ambivalentes Zeichen.

„Willkommen zurück, Darling.“

Jack hatte die Energiewaffe immer noch nicht weggelegt. Seine blauen Augen schienen unnatürlich hell zu brennen, als wäre er auf Chems; nur dass er das wahrscheinlich nicht war.

Gabriel stellte den Kanister ab, ohne den Blick von Jack zu nehmen, und zog langsam den Kadaver von seiner Schulter. Geronnenes, mutiertes Blut schmatzte klebrig wie Sirup auf seiner Schulter, als die ausgeweidete Unterseite des Tieres sich vom Mantelstoff löste.

Gabriel wusste, dass er in Gefahr war.

Das Gefühl war für niemanden, der sich nicht permanent in einer abgeriegelten Siedlung einsperrte, etwas Neues. Wahrscheinlich nicht mal dann, denn in dieser Welt war alles gefährlich. Der Schritt ins Leere konnte immer der nächste sein.

Gabriel überschlug seine Chancen. Jack sah aus wie immer: unter seinem Mantel konnte er Wunden verbergen, es war nicht hell genug, um einzuschätzen, wie erschöpft er war. Hier draußen musste man ein Idiot sein, um verwundet noch Ärger zu suchen, aber Bluffs waren die Hälfte des Kampfs unter Menschen... und es war besser, im Umgang mit einem Zerrütteten nicht zu viele Annahmen zu machen.

Gabriels Muskeln waren aufgewärmt vom Abstieg, wenn auch vermutlich müder. Er hielt seine Schrotflinte noch in der Hand, und auf diese nahe Distanz brauchte er nicht zu genau zu zielen, um blutende Krater in Fleisch zu reißen... wenn er schnell genug entsicherte und abdrückte, und das war nicht allzu leicht, während die Energiewaffe schon auf ihn zeigte. Die Dinger feuerten innerhalb eines Blinzelns.

Das Messer, mit dem er den Köter ausgeweidet hatte, steckte noch in der Scheide an seinem Oberschenkel. Gabriel war flink mit dem Messer; der Kommandant mochte das nicht sonderlich, er fand es eine feige Art zu kämpfen (nicht, dass er sich traute, etwas so Dummes laut zu sagen), und wenn er die Schrotflinte aufgab, fiel das Messer womöglich weniger ins Gewicht.

Langsam ließ Gabriel sich ein Stück in die Knie sinken und legte die Schusswaffe auf den Kanister, wobei er den Griff so drehte, dass das Übergewicht gerade so auf der Seite des Laufs war. Wenn man gegen den Kanister trat, würde die Schrotflinte kippen, sodass der Griff sich hob... in die wartende Hand, idealerweise.

Gabriel richtete sich wieder auf und rollte mit den Schultern, als wollte er die Spannung abschütteln. „Was, keine Begrüßung?“

Jacks Energiewaffe war entsichert, Gabriel konnte das leichte Flimmern von Hitze um die Fusionsbatterie im Mittelstück sehen. Fast konnte er riechen, wie das schmorende Plastik sich in die Luft mischte.

Gabriel hatte eingenähtes Synthetikgewebe in seiner Kleidung wie jeder Gunner, doch wenn Jack das Gewicht seiner kostspieligen Munition wert war, würde er nicht bloß ein Mal schießen: ein Mal in die Brust, dann in den Kopf und in den Unterleib. Das war nicht mehr zu überleben.

Aber wenn er das vorhätte, hätte er es jederzeit tun können. Weil Gabriel ein Mann war, der Respekt vor Jacks Fähigkeiten hatte, ließ er das 'ne Weile durchgehen, aber nur exakt bis zu der Sekunde, in der er spürte, dass er einundfünfzig Prozent der Situation unter Kontrolle hatte.

Also behielt er Jack im Blick, die weit geöffneten, nicht blinzelnden Augen, als er einen Schritt auf den anderen zutrat. Und noch einen. Die Holzbretter knarrten leise, dann tat es Gabriels Patronengurt, als er diesen abschnallte. „Na gut. Hatte ja keine Ahnung, dass du Blumen willst.“

„Romantik ist wirklich tot,“ erwiderte Jack in einem lapidaren Tonfall, der Gabriels Nacken kribbeln ließ.

Oh, er hörte die Anspielung. War ziemlich schwer, das nicht zu tun.

„Mmh.“ Gabriel machte einen weiteren Schritt, und die Mündung der Energiewaffe drückte gegen seinen Bauch: wo auf diese nahe Distanz auch ein einziger Schuss reichte, um seine Eingeweide einzuschmelzen und ihn zu töten. „Weiß nicht, wie's dir da geht, cariño... Aber so'n bisschen Tod macht das Ganze erst richtig... gut.“

Er legte die Hand auf Jacks Unterarm, und es war eine viel kompliziertere Aktion als das – zu schnell, zu langsam, zu zögerlich, zu selbstsicher, all das konnte dazu führen, dass Jack seinen Zeigefinger krümmte und eine konzentrierte Energieladung in Gabriels Innereien jagte. Und es lag absolut im Bereich des Möglichen... und Scheiße, irgendwie war es geil. Gabriel wusste nicht, warum, denn er wollte von Jack so wenig umgelegt werden wie von jedem anderen.

Er hatte nur ein seltsames Bauchgefühl, dass das hier irgendwie wichtig war. Und ja, vielleicht war dieses Bauchgefühl auch bloß die durch seine Kleidung kriechende Hitze der Mündung, die mit der Hitze in seinem Becken zusammenfloss.

Jacks Blick flackerte. Irgendetwas ging in ihm vor, doch er hielt Gabriel nicht auf, als dieser begann, seinen Arm langsam höher zu drücken: seinen Bauch hinauf bis zu seinem Brustkasten, auf die Mulde des Brustbeins und schließlich zu seiner Kehle, wo die Waffe ein paar Barthaare versengte. Jacks Blick bohrte sich in den dunklen Abdruck, der sich bei der kleinen Verletzung bildete, und obwohl er Handschuhe trug, ahnte Gabriel, dass seine Finger um den Griff der Kanone weiß vor Anspannung waren.

Er führte die Hand etwas höher, um den schmalen Streifen blasser Haut erreichen zu können, der zwischen Jacks Handschuh und seinem Ärmel lag, doch dessen Arm schnappte zurück wie der Schwanz eines Radskorpions – und presste die heiße Mündung gegen Gabriels Stirn.

Ah. Nun.

Gabriels Mundwinkel zogen sich in einem gedehnten Grinsen zurück, das irgendwo aus den Tiefen seines verdrehten Inneren kam. Der Schmerz strahlte in seinen Schädel und grillte dort zweifellos ein paar dringend benötigte Gehirnzellen, aber verdammt, wenn auch das nicht irgendwie... heiß war.

Gabriel fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne, und Jacks Blick flackerte und – da, einundfünfzig Prozent.

Gabriel rammte seine leicht gekrümmten Finger mit aller Kraft in Jacks Ellbogenbeuge und knickte den Arm ein: er traf die Nervenstränge dort gut genug, um den Griff um die Energiewaffe zu lockern und den Schuss zu verzögern, der eine Handbreit an seiner Wange vorbeipeitschte, um die Tunneldecke zu verkohlen. Gabriel nahm den Haken in den Unterbauch mit einem leisen Grunzen hin – Jack hatte nicht genug Platz gehabt, um richtig Schwung zu holen – und schlug dem anderen mit der Rückhand in Nase und Mund. Blut spritzte wie eine kleine Fontäne: es war kein Schlag, um einen Kontrahenten umzulegen, sondern um das Nervengeflecht im Gesicht flackern zu lassen. Ein erkaufter Sekundenbruchteil, während Jacks Lippen an einer Seite aufplatzten und seine Nase zu bluten begann.

Gabriel ging nach Gefühl – für mehr hatte man in so einer Situation eh keine Zeit. Noch während sich eine Faust ein weiteres Mal in seine Seite grub (diesmal eher in die Nieren, Schmerz strahlte in seine ganze Seite), nutzte er den Moment des Strauchelns. Die Energiewaffe hatte sich genug abgekühlt für den nächsten Schuss, und diesmal war Gabriel kaum zu verfehlen.

Er stieß sein Ärmelmesser in Jacks Waffenarm.

Es war eine kurze, dünne Klinge, die seine Vorgesetzten als feige verabscheuten und die Gabriel normalerweise nicht trug (nicht wegen dem Geheule über Feigheit, sondern weil er aufsteigen wollte) – aber jetzt kam er direkt von der Oberfläche, und das Messer steckte noch. Jack kannte es folglich nicht.

Es drang ein paar Zentimeter ein, doch Gabriel investierte keine weitere Muskelkraft in den Stich: stattdessen rang er die Pistole aus Jacks für einen Moment schwächelnden Griff und schleuderte sie in die Finsternis des Tunnels.

Blut verdunkelte Jacks Ärmel – nicht genug für eine tiefe Wunde, vermutlich trug er eine Art Schiene, doch ein dünnes Messer kam auch durch die Fasern. Seine Nase blutete nur noch schwach, während es aus seiner Lippe über sein Kinn lief, und seine Augen hatten immer noch diesen abwesenden Ausdruck. Und das ging Gabriel wahrscheinlich am meisten auf den Sack.

„Verpiss dich.“

Ihm war danach, weitere Schläge nachzusetzen, nachdem Jack auf beleidigende Weise das Interesse daran verloren zu haben schien, sich zu wehren; aber irgendwie... Er wusste auch nicht. Das hier war das Ödland, hier wurden Leute ständig irre. Und die Leute, die am normalsten wirkten, waren einfach schon längst irre.

Dass es jedoch so plötzlich aus Jack herausbrach, war verdammter... Hirnschiss.

Gabriel trat zurück und nahm seine Schrotflinte vom Kanister, richtete sie auf Jack. Nickte in die Richtung, in die der andere sonst verschwand, außerdem die Gegenrichtung von dem Ort, wo jetzt die Energiepistole auf dem Schotter lag. Wenn Jack keine Zweitwaffe hatte, war das nicht Gabriels verdammtes Problem – hätte er sich überlegen müssen, bevor er versuchte, den Typen abzuknallen, der hier nur rumhing und bald damit fertig war.

Vielleicht wusste Jack das. Vielleicht war es ein abgefucktes Abschiedsritual, ihn umzubringen, damit er die Route nicht weiterverriet. Wahnsinnige sahen sich immer als Zentrum des Scheiß-Universums, also wunderte Gabriel die Logik nicht mal.

Blut tropfte von Jacks scharf geschnittenem Kinn. Seine blauen Augen beobachteten Gabriel nüchtern und funktional, dennoch wirkte er umso mehr, als käme er von seinem High herunter: als wäre er nicht sicher, wie er damit umgehen sollte, dass Gabriel ihn entwaffnet hatte. Diesmal war es keine Frage davon, jemanden etwas tun zu lassen, bloß von unerwarteten Messern und Ablenkung und Schnelligkeit, die Gabriel in beiden Händen besaß.

Nach einem Moment, in dem Jack zu warten schien, dass er erschossen wurde, stieß dieser sich von der Holzbrüstung ab und ging. Gabriels Schrotflinte folgte ihm, drohend und kompromisslos, aber es gab kein Zögern, keine Worte – nicht, dass für die noch Platz war, nachdem alles schon nonverbal gesagt worden war.

Nur Jacks Schritte, bevor die Dunkelheit des Tunnels ihn verschluckte.

 

Gabriel hatte noch sechzehn Stunden, dann endete sein Exil.

Er hatte die Nachricht in dem toten Briefkasten gefunden, in dem normalerweise seine Munition hinterlegt wurde – knappe, verschlüsselte Worte, die aber mit der Abwesenheit von Tadel ein widerwilliges, beeindrucktes Erstaunen vermittelten. Gabriel hinterfragte nicht, woher die Informationen kamen, oder ob man nur annahm, dass er nicht tot war – er hatte nicht um medizinische Rationen gebeten, davon leitete man ab, dass er keine brauchte. Was wahr war, aber... es ging eher darum, sich selbst zu versorgen, nicht darum, wirklich keinen Bedarf zu haben.

Die Dogtags im Briefkasten waren ein Provisorium: eine kurze Andeutung, bevor diese später in sein Brustbein tätowiert wurden. Begleitet von einer Nummer, die vom Rekruten selbst mit einem Brenneisen aufgetragen wurde, bloß um zu zeigen, dass man keine Angst hatte.

Bisschen albern, aber wenn man damit ein paar alte Männer aufgeilte, drückte Gabriel sich auch vor denen ein Brenneisen auf die Titte. Der Schmerz von glühendem Eisen war armselig gegen den von monatelangem Hunger, doch diese Typen hatten das längst vergessen.

Dennoch war er nicht so zufrieden, wie er hätte sein können, während er leise zischendes Fleisch auf einem selbstgebastelten Rost über seiner Feuerstelle wendete. Frisches Fleisch so offen zu garen war etwas, das er sich die ganze Zeit verkniffen hatte, weil es viel mehr Rauch und Geruch produzierte, der ewig in den Tunneln hing und demnach tagelang Ghoule anlockte – aber jetzt das kein größeres Problem mehr.

Er hätte es verdient, das mehr zu genießen, verdammt.

Steine knirschten, unter richtigen Schritten, nicht unter dem Schlurfen nackter Ghoulfüße. Gabriel wusste mittlerweile, was das bedeutete; zumal der Corps sich schon bei ihm gemeldet hatte, also würden sie vor Ablauf der Zeit niemanden in Person hier runterschicken.

„Diesmal schieß' ich dir das Hirn zu Brei,“ knurrte er und lud seine Schrotflinte durch.

Die Stille neben dem leisen Wimmern des Windes im Tunnel dehnte sich für einige Sekunden: dann schließlich: „Nachdem ich dich die ganze Zeit abknallen konnte.“

Tja, für Scharfschützen war ein U-Bahn-Tunnel ideal – da Ghoule und anderes Viehzeug, mit dem man es hier unten zu tun bekam, so etwas nicht mitbrachten. Die schmale Holzbrüstung war für so ein Projektil kein großes Hindernis.

Gabriel konnte sich immer noch genug Zeit erkaufen, indem er eine Blendgranate schleuderte und unter dem Stacheldraht entlangkroch, aber andererseits kannte er ihre... merkwürdige Choreografie auch. Er konnte sie ignorieren, so wie Jack zuvor auch, und es auf den Kampf ankommen lassen – oder er konnte verhindern, dass sein Essen ruiniert wurde. Denn wenn Jack ihn hätte erschießen wollen, hätte er dafür echt nicht sein Versteck verlassen müssen.

Blieb also ihre gemeinsame Basis. „Verpiss dich.“

Mehr Stille. Die Dunkelheit um Gabriels kleines Lager blieb tief und formlos – geeigneter Terror in endlosen Tagen hier unten. Jacks Anwesenheit hatte ihn vor einem Teil der Halluzinationen bewahrt, die sich einstellten, wenn man in einer reizarmen Umgebung so lange herumhockte, doch sie war nicht entscheidend für Gabriels Überleben gewesen.

Vielleicht hatte er deswegen gedacht, dass es zwischen ihnen etwas Gutes war. Sie machten sich beide das Leben etwas leichter, aber sie brauchten einander nicht. Wenn er zum Corps zurückkehrte, endete das – wie in jeder hierarchischen Struktur bauten sie zu sehr aufeinander auf, um sich von Verpflichtungen freizumachen. Man schuldete immer irgendwem was. Jemand schuldete immer einem was.

Aber hey, keine scheiß Rookie-Jobs mehr.

Jack betrat die Barrikade. Er hielt kein Scharfschützengewehr. Was nichts hieß, er konnte es einfach im Tunnel zurückgelassen haben. War nicht so, als könnte man hier ohne Knarre rumrennen. Wie jeder Carrier hatte Jack vermutlich Verstecke mit Ausrüstung auf seinen Routen, aber da oben war abgefuckte Natur und Raider-Gebiet, da ließ man nichts liegen.

Aber Jack war scharfsinnig: wenn er seine Augen einigermaßen gebraucht hatte, war ihm die Änderung in Gabriels Ernährungsgewohnheiten aufgefallen. Und dann hatte er den Schluss gezogen, dass dieser nicht mehr lange hier sein würde. Und ausgerechnet, dass ein Umweg zu einem seiner Verstecke zu lange dauern könnte, sodass dieser Ort verlassen war, wenn er zurückkam.

Alles Spekulation. Nur war Gabriel nun mal auch nicht ganz bescheuert. Er konnte den kleinen Teil von Jack analysieren, den er zu sehen bekam, und er las aus dem verkrusteten Blut auf dem Riss in der Lippe, der mittelmäßigen Reinigung des Ärmels (und vermutlich einem mittelmäßigen Verband darunter)... den hängenden Schultern.

Gabriel kannte Müdigkeit. Die Dinge, die sie einem vorgaukelte. Er war weit davon entfernt, alles zu vergessen – aber Gewalt und Wahnsinn waren alltäglich. Es kam auf die restlichen Bruchstücke an.

„Ich hab' Schokolade,“ sagte Jack rau.

Gabriel zog unbeeindruckt die Augenbrauen hoch.

„Eine Menge,“ fügte der Blonde hinzu. Es klang matt. Gabriel mochte es nicht, aber aktuell stand es Jack gut.

„Und?“ brummte er nüchtern.

Jack griff in seine Manteltasche – langsam, weil er zweifellos mit seinem eigenen Überlebenssinn spürte, dass eine zu rasche Bewegung ihn mit Schrot bespucken würde.

Die vergilbte Tafel, die er aus der Tasche zog, war klein und armselig. Und es war bloß eine, wirklich. Eine mickrige Tafel Schokolade, 'eine Menge' war echt was Anderes. Das da reichte nicht mal als Rub für die Rippchen, geschweige denn als Dessert.

Gabriel wartete. Es kam nichts weiter. Und er musste langsam wirklich das Fleisch wenden, und dafür brauchte er beide Hände.

Schließlich schnaubte er und ließ die Schrotflinte sinken, um sich seinem Essen zuzuwenden. „Gewöhn' dich nicht dran, rubiecito.“

Jack lächelte langsam, und es war zu gleichen Teilen Erleichterung und Traurigkeit darin – aber nur für einen Moment, so kurz, dass Gabriel sich keine Gedanken darüber machen musste. „Keine Sorge.“

 

„Damit ich dich richtig verstehe – du willst, dass wir vorziehen.“

Moiras sehr ruhige Stimme verhieß nichts Gutes. Jedem war das klar, Jack auch. Deswegen ließ er sie über sich hinwegrollen wie der eisige Wind, der es war. „Das hast du.“

„Ein für Monate geplantes Attentat,“ fuhr Moira bedächtig fort, als hätte er nichts gesagt. „Auf eine der gefährlichsten Milizen. Nicht nur gemessen an der Gegend, sondern in allen umliegenden Bundesstaaten. Und du hältst es für angemessen, dass wir das vorziehen.“ Mit jedem Mal gewann das Wort an Bedrohlichkeit.

Es gab keine Unterstützung im Raum. Die Stille sprach für sich, auch ohne dass Moiras Präsenz sie überlagerte. Die meisten begegneten Jacks Blick, bestätigten stumm dass ja, ist das dein Ernst?

Wie meist gab es irgendjemanden, der das Schweigen nicht aushielt.

„Das ist nicht möglich.“ Sigma zeigte als eine absolute Minderheit im Raum so etwas wie Mitgefühl. Auf seine Gefühle durfte man auch nicht weitläufig bauen, doch zumindest in diesem sehr präzisen Zeitraum sympathisierte er mit Jack.

Aber nicht mehr.

„Ich weiß, es mag dir so vorkommen, wenn wir schon Monate lang arbeiten, wären ein paar Tage nicht entscheidend... Leider sind sie das doch. Du hast die Zugangscodes für ihre Drohnen, und mit den Fusionskernen kann ich die Power Armors bis hierher transportieren, und-“

„Schon gut,“ unterbrach Moira den älteren Mann, bevor er sich gewohnheitsgemäß in organisatorischen Details verlor und diese Situation mit Anspannung vollpumpte. Angela biss sich auf die Unterlippe und versuchte ein Lächeln. Es war spektakulär unüberzeugend.

„Jetzt zu hetzen wäre das Schlimmste. Dabei verlieren wir bloß.“

Er sollte es dabei bewenden lassen, wirklich. Das war alles – es gab keine Unterstützung, keine Geduld, sich das überhaupt anzuhören. Und Jack hatte auch keinen besseren Plan als der... an dem sie seit Monaten feilten. Das lag über seinen Kapazitäten und potenzierte das Risiko irrsinnig.

Aber er sagte: „Wir müssen es vorziehen.“

Wie der kaputteste Roboter. Diese armseligen Schrotthaufen, die nicht begriffen, dass die Welt vor ewiger Zeit untergegangen war.

„Junge, vorziehen kannst du deine Vorhaut.“ Moira steckte die Zunge in die Wange, und in diesem Moment wusste Jack, dass Angela geplaudert hatte. Es war nicht peinlich, es war strategisch beschissen, doch jetzt konnte er es nicht mehr aufhalten.

„Du willst, dass wir diese Bastarde nicht vollständig ausmerzen, weil einer von ihnen gut ficken kann, ja? Dafür sollen wir alles riskieren?“

Jetzt welkte sogar Sigmas Mitgefühl. Jack wusste, dass er verloren hatte; er wusste nur nicht, warum er es je versucht hatte. Ihm war klar gewesen, dass es erfolglos sein würde – und dass er sich selbst schadete. Angela hatte die Stimme erhoben, anders als die anderen, um ihn zu warnen, dass er gerade sein eigenes Grab grub.

Er war eine dumme Bemerkung von einer Zelle entfernt, weil er nicht vertrauenswürdig war. Und dann würden mehr Leute von ihnen sterben, weil Jack gut darin war, ihr Sterben zu verhindern, indem er andere zuerst tötete.

Leute, die er kannte und mit denen ihn etwas verband. Anders als mit einem Gunner-Rookie, der zum Zeitpunkt des Attentats wieder bei seinem Corps wäre. Ein Corps, der übler, übler Abschaum war und den Tod verdient hatte, und zwar besser gestern als heute.

Gabriel würde in zwei Tagen sterben.