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Iridium

Chapter 4: Verheerung

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Was für eine Bullshit-Zeremonie.

Waren sie überrascht, ihn wiederzusehen, unversehrt und müde, aber nicht ausgehöhlt von Erschöpfung? Idioten. Sie steckten so tief in ihren Plänen und ihrer Überlegenheit und all ihrem Uniform-Fetischismus, dass sie sich nicht mehr erinnerten, wie man allein überlebte.

Es war verrückt, doch kurz bevor der Trupp kam, um ihn abzulösen, hatte Gabriel daran gedacht, wegzugehen.

Er hatte seinen Punkt gemacht, sie konnten ihn alle mal lecken. Ein Teil von ihm hatte sich daran gerieben, immer und immer wieder, auf seinem Posten sitzen zu bleiben wie ein Kettenhund, während Jack in der Dunkelheit des Tunnels verschwand.

Jack, dessen blasse Sommersprossen dunkler zu werden schienen, wenn die Haut stärker durchblutet wurde. Dessen Atmung rau und zittrig war, wenn er kam – als quälten ihn Schmerzen. In dessen weicher, flaumiger Behaarung merkwürdig symmetrische Bahnen waren, als hätten unsichtbare Narben die winzigen Haarwurzeln zerstört.

„Gefreiter Reyes.“

Warum hatte Gabriel diesen seltsamen Gedanken gehabt, am Ziel seiner beiläufigen Ambitionen? Jack unter sich, angestrengt keuchend wie ein verwundetes Tier, aber unvermindert hart, und seinen Schwanz zu berühren trug Gabriel ein fast verwildertes Knurren ein. Er würde lügen, wenn er behaupten würde, dass sich das weltverändernd angefühlt hatte – zorniger, fast brutaler Sex, unter dessen Oberfläche er etwas spüren konnte, das irgendwie zu ihm sprach.

Gabriel goss klares Wasser über seinen Kopf, seifige Rinnsale liefen an ihm herunter und wuschen den schmierigen Dreck der Tunnel ab. Er drehte sich ohne Hast zu dem Mann an, der ihn angesprochen hatte.

„Corporal Alvarez.“ Gabriel salutierte – alles etwas zu langsam, zu träge.

Nach der Isolation kam ihm der untersetzte, vernarbte Mann fast unwirklich vor. Er wusste, dass Alvarez sich dafür eingesetzt hatte, ihn in die Tunnel zu schicken; zu interessiert an Gabriels militärischem Geschick, zu gierig auf diese Schlagkraft unter seinem Kommando, aber unfähig, dessen Aufsässigkeit aus ihm herauszuprügeln.

Stumpfe Gewalt war nicht beeindruckend. Gabriel wurde genauso ungern wie jeder andere zusammengeschlagen, aber wenn er Anspannung und Hilflosigkeit in den Augen seines Peinigers sah, ließ er sich nicht beugen.

Doch bisher hatte er die weise Vorsicht verspürt, Alvarez nicht zu sehr zu provozieren – nicht weitere Strafmaßnahmen auf sich zu ziehen.

Aber jetzt war er ein bisschen albernes Gunner-Zeremoniell von seinem Rang als Private entfernt, jenseits willkürlicher Bestrafung, und... selbst ohne das schien Alvarez ihm kleiner, armseliger. Als könnte er Jacks abfälliges kleines Lächeln sehen, wie dieser um den Corporal herumstrich und ihn mit seinen unbarmherzigen blauen Augen durchleuchtete. Bevor er Gabriels Blick einfing und zwischen ihnen ein Funke Belustigung flog, weil Mann, was für ein trauriger Sack Scheiße.

Jack war nicht hier, aber Gabriel würde ihn finden. Er musste sich immer noch an seine Befehlsstruktur halten, doch er war nicht mehr so strikt festgesetzt; und mit seinem Pfund, was er in den Tunneln 'erlebt' hatte, konnte er ganz anständig wuchern.

Er freute sich auf die Suche, die Jagd. Er schuldete Jack einen Kampf ohne Chems und mit ungewissem Ausgang, doch in jedem Fall wäre dieser Ausgang es so was von wert...!

Alvarez' Augenlid zuckte unter der Wulst seiner Augenhöhle. „Du bist vielleicht wahnsinnig geworden da unten, aber du bist noch längst nicht so weit. Du bist so weit, wenn ich es sage, Gefreiter.“

Gabriel hatte nicht mal versucht, seine abwandernden Gedanken zu verbergen. Er versuchte auch jetzt nicht, sein Grinsen zu schlucken. „Aufgrund von was, Corporal?“

Er füllte seinen Eimer erneut aus der Schwengelpumpe, goss Wasser über sein Haar. Beugte sich vor, damit Alvarez einen weiteren Blick auf die grimmigen, violetten Blutergüsse in Handform genießen konnte, die Jack ihm zugefügt hatte. Er musste sie vorhin schon gesehen haben, als Gabriel ihm den Rücken zuwandte, dunkel und unheilvoll.

Jack hatte ihm keine blutenden Wunden zugefügt, aber seine Berührung wie ein stumpfes Brandmal in Gabriel gestanzt. Keine Ahnung, wie. Keine Ahnung, warum.

Gabriel würde seine Antworten von ihm bekommen.

Alvarez starrte ihn aus zornigen Augen an und – ah, da war wieder diese Hilflosigkeit. Was muss ich tun, damit du mir gehorchst?!

Wenn man fragen musste, war man schon auf dem Holzweg.

„Du hattest Hilfe,“ zischte der Corporal. „Offensichtlich.“

Gabriel schüttelte Wasser aus seinem Haar und wischte es aus seinem Bart. „Das ist eine recht ernste Anschuldigung, Sir,“ schnurrte er. „Noch dazu gegen ein Mitglied des Corps...“

„Noch bist du keins!“ donnerte Alvarez, Speichel sprühte von seiner Unterlippe, und seine Hände zuckten, als wollte er nach seiner Waffe greifen – oder seinem Schlagstock. „Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, und du-“

„Corporal Alvarez, das reicht jetzt.“

Leise, sodass auch Gabriel sie nicht gehört hatte, war Captain Cadalso herangetreten und betrachtete sie beide mit Abscheu, als hätte sie sie gerade von ihrem Stiefel abgestreift.

Doch Gabriel wusste auch, dass sie Alvarez noch viel mehr verabscheute als ihn. Sie war auch marginal fairer als dieser, deswegen hatte sie den höheren Rang... und keine Geduld mit dessen Spiel.

Gabriel war dennoch klug genug, vor ihr deutlich zackiger zu salutieren. Sie entfrostete sich nicht, aber der Ausdruck von ohnmächtiger Wut auf Alvarez' Gesicht schien ihr zu gefallen. „Ich nehme Reyes mit zur Zeremonie,“ sagte sie knapp, fast gelangweilt. „Anziehen.“

Gabriel war noch nicht überzeugt, was ihm mehr zusagte: ein schwacher, alberner Befehlshaber oder eine weniger kleinliche, aber penible Kommandantin. Nichts von beidem, um ehrlich zu sein. Er fragte sich, worauf Jack seine Ambitionen richten würde.

Auf gar nichts vermutlich. Jack war ein Einzelgänger, er würde sich von keinem der beiden an die Leine nehmen lassen.

… aber letztlich konnte Gabriel sich nicht von einem Phantom leiten lassen. Scheiß drauf, er konnte die Militärwichser immer noch in den Wind schießen, wenn er Jack hatte.

 

Gabriel folgte Cadalso entlang der Befestigung. Sein Hemd klebte an seinem Rücken, steif und sauber und ungewohnt. Es ging böiger, kalter Wind, der sich weicher anfühlte als die harsche, abgestandene Luft der Tunnel. Als hätte er sich das nur eingebildet. Zeit war irreal geworden, so wie die Stimmen anderer Menschen – Spanisch, das er lange nicht mehr gehört hatte, ohne dass er sagen konnte, wie 'lange' dauerte.

„Reyes.“

Cadalso hatte ihr Tempo minimal verlangsamt, sodass sie Gabriel aus dem Augenwinkel sehen konnte: er wusste, dass er keine Miene verziehen konnte. Sie würde es sehen.

Warum man sich das antrainierte – ob jemand aus dem Augenwinkel grinste – war Gabriel ein Scheiß-Rätsel. Er war nicht bewaffnet, sie schon; sie befanden sich hier in ihrem Stützpunkt, nicht in der Wildnis, es war dumm, sich auf solchen Dreck zu konzentrieren und dafür andere Dinge zu vernachlässigen.

Es zeigte ihm, wie weit Cadalso und andere von echten Gefahren, von echtem Schmerz entfernt waren. Paranoide Kontrolle von Gesichtsmuskeln war wichtiger als Stärke, es war... fast albern.

„Ma'am,“ machte er neutral. Versuchte, nicht irritiert in den Himmel zu starren.

Cadalso warf ihm einen scharfen Blick zu. Vermutlich hatte er irgendeinen Unterton nicht gut getroffen, weil Verachtung sich in seine Gedanken schlich, doch jetzt, wo sein Blick klarer war, konnte er sie einfach nicht unterdrücken.

„Du hast das nicht allein geschafft,“ stellte sie fest. „Aber du beabsichtigst, für dich zu behalten, wer dir geholfen hat.“

Gabriel wusste, dass ein Schulterzucken sie ärgern würde, aber er neigte zumindest den Kopf abwägend. „'Helfen' ist ein vager Begriff, Ma'am. Ich habe meine Aufgabe allein erledigt.“

Er hatte nichts von Jack bekommen. Keine Munition, Nahrung oder Chems. Was er bekommen hatte...

„Ich habe überprüft, dass du keine Hilfe aus dem Corps hattest,“ stellte Cadalso kalt fest. „Aber du weißt, welche Strafe auf Fraternisieren mit Zivilisten steht.“

Gabriel konnte seine Ungläubigkeit nicht ganz verbergen. Das war ihr also wichtig – dass die Leine um seinen Hals kurz war. Dass er keine Kontakte zur Außenwelt außer den absolut notwendigen hatte. Diese absolute Geschlossenheit war für Gunner normal, machte sie so erfolgreich, doch das so zu priorisieren war... wild.

Diese Menschen hatten vergessen, was da draußen war.

„Ja, Ma'am,“ bestätigte er nüchtern. „Aber wenn Sie mich dessen verdächtigen würden, hätten Sie Alvarez nicht aufgehalten.“

Es war unverschämt, doch Gabriel war es so leid, sich diese krankhafte Paranoia anzuhören, als müsste er sich für jeden Kontakt nach draußen rechtfertigen.

Cadalsos hartes Gesicht spannte sich noch mehr an, gereizt, trotzdem blieb sie stehen. Wenn sie die Barrikade aus Müllcontainern und Wellblech passierten, wären sie im Innenhof, und ihre Worte leichter zu belauschen. Die Zeremonie würde dort stattfinden, vermutlich warteten die anderen schon, und Cadalso war immer pünktlich.

Außer jetzt, wo sie Gabriel abwägend anstarrte. „Alvarez überschreitet seine Kompetenzen,“ natürlich würde sie das sagen, natürlich war das wichtig zu betonen, damit alles seine dringend nötige Ordnung hatte, „und es ist nicht uninteressant, wie du dieses Ergebnis erreicht hast... Private.“

Ah. Sie kamen also weiter. Gabriels Mundwinkel zuckten kurz, amüsiert, weil er wusste, dass er sie in der Hand hatte. „Ich kann es replizieren. Aber ich brauche ein paar Dinge dafür.“

„Natürlich.“ Cadalso sagte es fast schnippisch, als wäre ihr unbegreiflich, wie er es wagen konnte, Bedingungen zu stellen. Sich nicht sklavisch der bloßen Aussicht auf das Wohl des Corps zu unterwerfen... oder übersah er etwas?

Vorsicht ließ Gabriel schweigen, den Kopf bescheiden gesenkt, als wäre es ihm insgeheim peinlich. Was an seinem Stolz kratzte, aber er wusste nicht, wie lange Jack in der Gegend blieb; ob er die Zeit hatte, darauf zu warten, dass Cadalso den Stock aus ihrem Arsch zog.

„Reyes.“ Die Gunner musterte ihn aus schmalen Augen. „Wenn ich Ressourcen aufwende, muss ich sicher sein.“

Das war alles, was sie sagte. Passend, irgendwie.

Dann schoss eine Fontäne von Blut aus ihrem Hals.

Gabriel griff unwillkürlich nach ihr, als sie zurückstolperte, presste eine Hand auf das klaffende Loch zwischen ihren Wirbeln und ließ sich mit ihr zu Boden fallen. Die plötzliche Bewegung sorgte dafür, dass die zweite Kugel nur seine Schulter streifte, anstatt auch seine Kehle zu zerreißen.

Er musste hier verschwinden. Schüsse hallten krachend über das Fort, Cadalsos Blut quoll über seine Hand und tropfte von seinem Gesicht. Als er sie losließ, versuchte sie ihn festzuhalten, ihre Augen waren groß und voller Entsetzen. Ihr Griff war bereits schwach.

Gabriel konnte sie nicht retten, aber er hätte es auch nicht versucht, wenn Cadalso nicht tödlich getroffen wäre. Alarmsirenen begannen zu heulen, und trotz der Rufe aus dem Innenhof gab es kaum Antwortfeuer. Gabriel rollte sich zur Seite, in den Schutz einer bröckelnden Häuserwand, und riskierte einen Blick nach oben, doch er konnte kein Mündungsfeuer erkennen.

Protectron – er musste das Protectron aktivieren und eine Waffe finden. Cadalso hatte vermutlich eine, aber um zu ihr zu gelangen, müsste er sich zurück ins offene Feld wagen, und angesichts der Zeremonie hatte sie vermutlich nur eine kleinkalibrige Pistole dabei.

Gabriel rappelte sich auf und rannte in Richtung der Baracken, Haken schlagend, den Kopf gesenkt. Die Alarmsirenen übertönten die Schreie nicht, irgendwie bohrten sie sich durch das Kreischen der Tonbänder. Gabriel schmeckte fremdes Blut auf seiner Zunge, es war überall in seinem Gesicht wie eine tropfende Maske und hielt ihm Cadalsos fassungslosen Blick vor. Gabriel ließ ihre Anklage fallen, wie er auch ihren Körper fallen gelassen hatte, neben ihm platzte Mauerwerk ab, als er die Tür der Baracken aufriss-

Und zurücktaumelte, als ihm Gas entgegenströmte. Es fraß sich in seine Atemwege und zwang ihn zum Zurückweichen, auch wenn er blind seinen Weg zu den Waffen hätte finden können. Er würgte gegen das ätzende Feuer auf seinen Schleimhäuten.

Schrotflinte – er hatte sie beim Waschen abgelegt, und dann war Alvarez aufgetaucht. Obwohl seine Kehle und seine Augen brannten, stolperte Gabriel zurück, während das Gas sich zischend ausbreitete.

Alvarez, dieser Wichser, hatte bestimmt nichts aufgeräumt; unter seiner Würde. Gabriel hätte fast gelacht, als er den Umriss einer Schrotflinte neben dem leeren Waschzuber sah, zu Boden geworfen von einem idiotischen Trotzanfall. Bestimmt sogar. Wenn Alvarez auch niedergeschossen worden war, lag auch dort eine Waffe...

Ein Stromschlag traf Gabriel in den Rücken wie eine glühende Faust und warf ihn unter einem gequälten Gurgeln zu Boden. Seine Muskeln zuckten, weigerten sich zu gehorchen, als das Protectron auf ihn zustapfte, ungerührt von seinem fiependen Japsen. Die unförmigen Arme knisterten noch vor statischer Ladung, als es einen weiteren Schuss hochfuhr, und das Display leuchtete bedrohlich rot.

Wie hatte jemand den Code des Kampfroboters geknackt?! Wie?! Gabriel hustete blutigen Schleim aus und zwang sich zum Weiterkriechen. Seine Muskeln waren steif und heiß, und trotz des gemächlichen Tempos des Protectrons kam er nur langsam voran. Sein Körper gehorchte einfach nicht.

Er würde hier verrecken. Sie alle. Niemand griff einen Gunner-Stützpunkt an, schon gar nicht so koordiniert, so lückenlos, und jetzt-

„Farbcode: Gunner,“ leierte das Protectron, seine Sensoren filterten Gabriels Uniform durch die gräuliche Luft.

Es war umprogrammiert auf die Farben? Gabriel biss die Zähne zusammen und wälzte sich herum, obwohl es ihm Tränen in die überreizten Augen trieb, sodass seine von Blut verdunkelte Front sichtbar war – Dunkelbraun statt Olive, diese Dinger hatten Scheiß-Wahrnehmung. Und Gabriel trug noch kein Abzeichen für seinen Dienstrang, das lag jetzt in irgendwessen Blut.

Tatsächlich wurde das Protectron langsamer, das Knacken der statischen Kanone wurde leiser, als es die Kraft dämpfte. „Suche,“ machte es blechern. Es würde den nächsten Scan laufen lassen, und dem hielt das bisschen Ablenkung nicht stand.

Gabriel griff hinter sich, rutschte auf dem Hintern zurück. Seine Muskeln waren hart und starr, und er musste aus diesem Gas raus, aber nach dem nächsten Stromschlag würde er nicht mehr aufstehen können.

Der Schmerz der Bewegung ließ Tränen aus seinen stechenden Augen laufen, jeder Atemzug quälte sich an einem ekelhaften Flattern in seiner Brust vorbei, aber er packte die Schrotflinte und entlud alles in den blinkenden Sensor.

In diesem Moment hörten die Alarmsirenen auf, und es schien so still. Es war nicht still, Schüsse krachten, Explosionen hallten von den Toren herüber, Schreie, doch für Gabriel schien jedes Geräusch aus weiter Ferne zu kommen.

Das Protectron brach ein, eins der Beine war zersplittert von einem Treffer – nicht Gabriels, dafür war seine Waffe nicht stark genug.

Jetzt fiel es. Gabriel robbte zurück, doch sein Körper war langsam, aufgerieben. Schmerz und Giftgas und Strom und... Jack.

Gott, er wollte Jack sehen.

Hinter dem Protectron lief eine Gestalt hervor. Zu klein, zu wenig kantig, aber hinter der Schutzbrille blitzten blaue Augen, und das Haar unter der Kappe war weizengolden.

Jack. Er musste es trotzdem sein. Niemand sonst konnte jetzt auftauchen, niemand sonst würde zu Gabriel kommen...!

Die Gestalt richtete ihre Pistole auf ihn.

„Nicht,“ flüsterte Gabriel. Es schien ihm so irreal, Jack würde nicht... Nicht so. Nicht Jack. Gabriel starrte in den dunklen Lauf, seine blutigen Lippen bebten.

„Bitte.“

Er musste doch noch Jack finden.

Die Rohrpistole schoss. In den Unterleib, in die Brust und dann in den Kopf. Beim letzten Schuss wandte die Gestalt sich schon ab, die Augen hinter dem Schutzglas weit aufgerissen und feucht. Nicht gewohnt ans Töten.

Gabriels Körper ruckte und lag still.

 

„Gracie! Kaum zu fassen, die Blechbüchse ist noch fast ganz! Wer lässt die guten Kabel alle drin, hm?!“

Splitternd und krachend hebelte jemand das Protectron auf, um misstönend summend das Innenleben auszuschlachten – mitten im Lärm hörte die Arbeit auf. Jemand zog geräuschvoll die Nase hoch.

„Was für 'ne hübsche Farbe.“

Groß und bedrohlich ragte die Gestalt über Gabriel auf, schlug eine Messerklinge mit der flachen Seite gegen den Handteller.

„Liegt durchsiebt im Gas, aber die Haut... Hübsch, hübsch. Oh, hey, sollen wir die abziehen, Gracie? Ich suche schon lange 'nen neuen Bezug für meine Fußbank!“

Sie packte den Unterschenkel und zog daran, schob das Hosenbein hoch und summte bei der Begutachtung der Haut zufrieden – dann packte sie fester zu und spürte den schwachen Puls unter ihrer Hand.

„Deswegen ist die Haut noch frisch,“ stellte die Gestalt, eine hünenhafte Frau in einer Käfigrüstung, fest. „Ist noch nicht tot. Na ja.“ Sie erhob sich und griff nach ihrer aus Schrott zusammengehämmerten Axt... und zögerte.

„Der Schädel ist auch gute Deko,“ brummte sie. „Aber, hrm, wenn wir ihn eh zurückschleppen, um ihn da abzuschlachten, ist das ziemlich viel Aufwand. Könnte ihn auch versenken... verdammt, Gracie, such du's dir aus!“

In einer der gesprengten Baracken flatterten Aasfresser auf – die Frau wirbelte herum und ließ die Stelle nicht aus den Augen, verharrte minutenlang angespannt. Erst dann ließ die langsam den Stiel der Axt los.

„Nicht mehr viel Zeit,“ murrte sie. „Wenn ich ihn mitnehme und er noch lebt, will die Hexe ihn. Ugh, aber dann kriege ich keinen neuen Bezug aus seiner Haut! Keine Lust, mit ihr zu streiten, verdammt noch mal. Du bist wirklich keine Hilfe, Gracie! Ist es das wert...“

Sie kniete sich über Gabriel und strich über sein mit Staub und Blut verkrustetes Haar, seinen verklebten Bart, seine vom Gas aufgeriebene Haut. Die Knochenwulst der Augenhöhle, wo der Schädel so hart war, dass die schlecht gezielte Kugel nicht ins Gehirn eingedrungen war.

„Du warst mal ein Süßer, hm?“

Die Frau schmierte Blut und Schleim an der verdreckten Uniformschulter ab und packte dann unvermittelt in den Schritt des Gefallenen – sie schnaubte amüsiert. „Bisschen was haste zu bieten, aber das allein ist den Ärger nicht wert.“

Sie schnitt die Uniformjacke unten auf, um die Schusswunde im Unterleib zu untersuchen: als sie die Tätowierung über der Scham fand, lachte sie gellend auf und schlug sich auf den Schenkel. „Hah! Das will ich auf meiner Fußbank! Komm, du kleine Pissnelke.“

Sie warf sich ihren Sack mit Plündergut über die Schulter, schob die Axt zurück in ihr Wehrgehänge aus Brahminleder und lud Gabriel auf ihre Arme. Ihre Käfigrüstung stach in seine Wunden, aber es war immer noch wesentlich sanfter, als zusammen mit dem Schrott auf ihre Schulter geladen zu werden.

Die Königin hatte ihre Entscheidung getroffen.

„Ich weiß schon, was ich mit dir mache, wenn du nicht verreckst,“ summte sie zuversichtlich. „Diesmal nicht, Gracie.“

 

Irgendetwas war zerbrochen.

Jack war gut darin, Reaktionen zu kalkulieren, doch das systematische Lahmlegen, Abschlachten und Verwüsten der örtlichen Gunner hatte etwas in ihnen allen zerbrochen. Methodisches Töten. Sehen, was man tat. Es hatte Angela zutiefst verstört. Sigma instabil gemacht. Moira... eher nur aufgezeigt, dass sie keinen Feldeinsatz wollte. Den anderen vor Augen geführt, wie leicht Töten war.

Jack hatte Gabriel verloren. Zunächst hatte er keinen Verlust gespürt. Erst Wochen später, als das drängende Gefühl, sich überzeugen zu müssen, ob es dem anderen gut ging, seine Stimme zu hören, ihn zu berühren, zu stark wurde... hatte seine Verdrängung ihre Grenze erreicht.

Ab und zu vergaß er immer noch, dass Gabriel tot war. Wenn er dachte, wie gern er jetzt bei ihm wäre. Und dann war es wieder da, dieses: Richtig. Gabriel ist nicht mehr da.

Ihre Gruppe arbeitete nicht mehr unmittelbar miteinander. Viele auch nicht im Feld. Kommunikation über tote Briefkästen, nicht mehr über persönliche Treffen. Es war, als könnten sie einander nicht mehr in die Augen sehen. Als gäben sie einander die Schuld an dem, was sie fühlten.

Jack gab niemandem außer sich die Schuld für Konsequenzen. Aber er wollte trotzdem keine Fassade mehr aufrechterhalten, weder als Angelas Freund, noch als Runner für irgendwen, noch als... netter Kerl. Es war anstrengend geworden.

Deswegen begriff er, warum man ihm jemanden zur Seite gestellt hatte. Jemanden sozial höchst Kompetenten, einen guten Manipulator, der diese Lücke füllte.

„Jack! Ah... Soldier! Entschuldige. Ich war in Gedanken. Bist du mir böse? Es tut mir wirklich leid, der Name passt nur so gut zu dir! Ich und mein vorlautes Mundwerk, zum Glück hat mich niemand gehört. Sag', dass du mir nicht böse bist?“

Aber Gott, Weaver war kaum zu ertragen.

Jack war sich bewusst, dass Weaver nicht nur da war, um mit ihm zu reisen und nach dem Vier-Augen-Prinzip zu arbeiten: er überwachte Jack auch. Beobachtete die kleinen Zeichen, ob auch er instabil wurde, und was zu tun war. Es war eine vernünftige Anordnung, um unnötige Risiken zu vermeiden und Probleme im Keim zu ersticken. Jack war schon zu lange da, er wusste zu viel, und er war zu wertvoll, um ihn einfach zu eliminieren, und zu spröde geworden, um ihn ohne Bewachung zu lassen. Wenn die Waagschalen kippten, würde Weaver ihn töten (oder es zumindest versuchen).

Doch er redete so viel.

Auch das war eine altbekannte Technik, um jemanden mürbe und lesbar zu machen, und früher hatte Jack sie selbst angewendet. Er wusste allerdings noch, wie anstrengend das für ihn selbst war, für ungefähr jeden, und Weaver schien überhaupt keine Ermüdung bei seinem Geplapper zu spüren. Eine erbarmungslose Maschine des leeren Geredes.

„Schon gut,“ knurrte Jack. Weaver lachte, plätschernd und melodisch. Jack dachte kurz darüber nach, ihm ins Gesicht zu schlagen, einfach für den kleinen Tagtraum.

„Bist du nicht auch aufgeregt? Wir treffen eine echte Königin! Ich kann's nicht erwarten!“

Jack atmete durch und konzentrierte sich auf das mit altem Stacheldraht und Schrott durchsetzte gelbe Gras, über das sie hinwegstapften.

Junker Queen war eine weitere Wahnsinnige des Ödlands, kein direkt neues Gesicht auf Jacks Radar – aber erst in den letzten Monaten hatte sie ihre aggressive Übernahme von Territorien begonnen. Damit brachte sie viel Unruhe in eine eigentlich stabile (weil selbst für Ödland-Standards karge) Region, und Jacks Leute mochten keine Unruhe. Oder Usurpatoren.

Allerdings war Junker Queens Einfluss vergleichsweise positiv: weniger Überfälle auf Karawanen, Eindämmung von Mutanten, eine gewisse bedrohliche Autorität unter Raidern. Gleichzeitig war Queen eher uninteressiert an anderen Siedlungen, die sie als schwach betrachtete, und ihre Tendenz ging zur Abschottung.

Vielleicht wollte man einen Fuß in die Tür bekommen, bevor sie sie zuschlug. Das, oder man half diesem Howl, seinen Besitz zurückzubekommen, weil er leichter zu kontrollieren war.

Das stand zu entscheiden. Junker Queen war eine unbekannte Größe, und Jack und Weaver waren hier, um das zu ändern.

Wenn es nach Jack ginge, würde er Howl wieder einsetzen. Der Kerl war ein Arschloch, aber man konnte ihn zuverlässig lenken, und er betrieb keinen Personenkult – Junker Queens Leute waren auf sie eingeschworen, sie später zu eliminieren würde neue Unruhen bringen. Jack hatte keine Geduld für Terroristen, die die ganze Welt dafür verantwortlich machten, wenn irgendwer krepierte. Als würde das heutzutage nicht oft genug passieren.

Weaver war zuversichtlich, dass ihnen Junker Queen nützlich wäre, und er hatte offensichtlich noch mehr Menschen überzeugt. Was in mehr Arbeit für Jack resultierte, um den Dreck zu beseitigen.

Egal. Er musste nicht grübeln, wenn er arbeitete.

„Abgesehen von der Königin,“ Weaver hopste über einen verrotteten Schrotthaufen und drehte sich elegant um die eigene Achse, „hat die Siedlung eine interessante Ärztin. Sogar Howl hat das bemerkt.“

Eine von Howls Bedingungen, um sein zurückgewonnenes Territorium zu unterwerfen, war die Ärztin – und Stones Kopf, wenig überraschend. Für Jack sagte es viel, dass Junker Queen auf Howls Land geboren war, er sich aber bestenfalls an ihren Familiennamen erinnern konnte, und das auch nur, weil es eine große Familie gewesen war.

Weaver war eher kompetent darin, medizinische Fähigkeiten zu beurteilen, aber Jack wusste, warum er das sagte. „Sie wird sich nicht abwerben lassen.“

Wenn jemand die Entscheidung traf, in einem blutigen Konflikt auf der Seite der Usurpatorin ohne Bündnisse zu bleiben, würde er nicht einfach gehen, weil jemand darum bat.

Und Moira kennend, hatte sie das auch nicht getan, sondern gesagt 'Bring mit, ob sie will oder nicht'.

Jack war kein Entführer. Im Ödland hatte jeder das Recht, sich für seine Entscheidungen eine Kugel zu fangen, Arzt oder nicht.

Gabriel hatte sich für die Gunner entschieden. Aber er hatte kein Angebot erhalten, Jack hatte ihn nicht gefragt. Und Gabriel hätte Nein gesagt, trotzdem...

Jack hätte ihn aufhalten können. Ihn irgendwo anpflocken wie einen Brahmin, bis der Überfall vorbei war. Er hatte es nur nicht getan.

„Und jetzt denkst du an jemand anderen.“ Weaver war neben ihm aufgetaucht, lautlos und geschickt, trotz knisternden Grases und der merkwürdigen Mauve-Färbung seiner Rüstungselemente. Jack unterdrückte den Impuls, nach ihm zu schlagen, als Weaver seinen Arm berührte – der Mann fummelte zu viel.

„Ich beschäftige mich mit der Königin, weil einer von uns das tun muss und du eh nicht willst,“ Weavers goldverstärkte Finger drückten in den Muskel von Jacks Schulterkappe, „aber du könntest versuchen, ihr ein Angebot zu machen. Es wäre gut für dich. Oder – irgendjemandem wirklich.“

Jack grunzte und stieß Weavers Hand beiseite, nur damit diese sich zwischen seine Schulterblätter legte. Jack ging schneller. Weaver auch.

Manchmal fragte er sich, ob der andere einfach testete, wann Jack ihm die Nase brechen würde. Und was noch alles, wenn er schon dabei war. Die Versuchung war da.

„Du weißt, dass ich von Sex rede, ja? Ich rede definitiv von Sex. Ich müsste kein Arzt sein, um zu beurteilen, wie angespannt du bist, also reiß' die Fluttore deines Gehirns ruhig mal auf.“

Gabriels leises Wimmern, sein atemloses Grinsen, das seine Zähne zu scharf und weiß in seinem braunen Gesicht machte. Es war nicht so, als hätte Jack nicht verhindern können, das er daran dachte: er hatte seine 'Fluttore', was zum Teufel der Euphemismus sollte, gut unter Kontrolle.

Aber manchmal öffnete er sie einen Spalt und sah nach, ob Gabriel noch dort war. Verstohlen, wie ein Spanner in seinem eigenen Kopf.

Jack blieb stehen und griff nach seinem Impulsgewehr. Die Technologie war in den letzten Jahren einfacher zu modifizieren geworden, und mit einem trockenen Knistern lud die Fusionszelle sich auf. Jack regelte sie mit dem Daumen ein, während sein Blick starr geradeaus ging.

Weaver ging noch einen halben Schritt weiter und lauschte dann erst, seine Augen huschten hin und her.

„Ich dachte, wir bringen Blumen mit,“ sagte er leise. „Du dachtest an etwas Handfesteres, nehme ich an.“

Jack ließ seine blutunterlaufenen Augen flüchtig zu ihm pendeln. „Du kannst immer noch Blumen pflücken gehen.“

Weaver lächelte heiter, während er die Munition seiner Pistole mit einer Effizienz durchwechselte, die den ganzen cutie-pretty-bullshit ziemlich flach aussehen ließ. „Wir sollten eh fashionably late zu unserer Audienz kommen.“

 

Aus dem Augenwinkel sah Jack den toten und ausgeweideten Radstag bei jedem Schritt nicken. Das Gewicht auf seinen Schultern waren weniger störend als dieser glotzende Blick und die heraushängende Zunge, doch Jack blieb dabei – für eine instabile Siedlung war frisches Fleisch wertvoller als Blumen.

Weaver kennend, waren es allerdings irgendwelche Scheißblumen, die für Arzneien nötig waren, oder deren Samen sich für den Anbau kultivieren ließen. Jacks Meinung nach strapazierte er das Cover von gewöhnlichen Besuchern damit, doch da sie nicht wussten, wie misstrauisch Junker Queen und ihr 'Hofstaat' waren, war es nicht verkehrt.

Er spürte den Moment, in dem jemand ihn durch ein Fadenkreuz beobachtete. Verschob die Last auf seinen Schultern, um das Schussfeld auf seinen Kopf einzuschränken.

Ein Kind kam ihnen entgegen. Sie mochte etwas zwischen fünf und acht sein – je nach Ernährung und Verseuchung der Atemluft. Sie hatte zotteliges schwarzes Haar und braune Haut, bewegte sich mit einer Flinkheit, die eine gewisse Anpassung an das Ödland verriet. Die einzige Waffe, die Jack erkennen konnte, war ein kleines Messer in ihrem Gürtel.

Das Mädchen starrte sie unverhohlen an und verengte die Augen, als Weaver ihr zuwinkte.

„Hallo, kleine Knospe!“

Das Mädchen verzog das Gesicht und streckte ihm die Zunge heraus. „Fick dich!“ rief sie zurück.

Weaver gluckste und warf Jack ein Grinsen zu. „Es ist ein guter Ort, wo Kinder so furchtlos sind.“

Jack brummte zustimmend, entspannte sich unwillkürlich; eine normale freche Göre war so viel natürlicher als wohlerzogene Kinder, und schon ihr Mangel an scharfen Waffen-

Etwas platzte neben dem Mädchen auf: wie ein mit Wucht geworfener Kiesel, eher laut als gefährlich, und er hatte sie um mindestens eine Armlänge verfehlt. Die Kleine zuckte zusammen, aber ihr Gesicht zeigte eher Scham als Angst.

Aus einer Senke in der Erde erhob sich eine Frau – ähnlich gefärbt und gebaut, eine nahe Verwandte, vermutlich die Mutter – und bedachte das Kind mit einem ehrfurchtgebietenden Blick. „Wir war nicht klar, dass wir vor Fremden solche Sprache führen.“

Nicht 'Sprich nicht mit den bewaffneten Freaks, von denen einer einen toten Radstag auf den Schultern hat und der andere aussieht wie ein Synth'. Nur 'keine bösen Wörter vor den Freaks'.

Jacks Mundwinkel zuckten unwillkürlich. Die Frau sah es. Sie schien alles zu sehen: ihre dunklen Augen waren ständig in Bewegung, wachsam und stählern.

Die Hexe.

Ihm war nicht bewusst, dass er es laut gesagt hatte, bis die Frau lächelte. Es war kein freundliches Lächeln, doch immerhin verzog sie überhaupt das Gesicht. Sie wirkte nicht wie jemand, der lächelte, wenn ihr nicht danach war. „Ana. Wir haben es hier nicht nötig, uns hinter Codenamen zu verstecken.“

„Wie beneidenswert.“ Weaver war, das war ihm neidlos anzurechnen, von dem Seitenhieb nicht beeindruckt. „Entschuldigung, dass wir so nervös sind – vielleicht können wir die Formalitäten ja bald hinter uns lassen.“

„Vielleicht,“ erwiderte Ana, ihr Blick kehrte zu Jack zurück. „Ihr seid hier, um mit Dez zu reden?“

„Mit der Junker Queen, ja.“ Weaver blinzelte arglos. „Sollen wir sie anders nennen?“

Lange bevor Howl sich irgendwann erinnert hatte, dass Junker Queen eine Stone war – schon das Ausmaß seiner Erinnerung – hatten Jacks Quellen ergeben, dass ihr Geburtsname Odessa Stone war. So wie er auch wusste, dass die Frau vor ihm Ana Amari war, ob sie es ihnen sagte oder nicht. Von ihrer Tochter wusste er nichts, doch wenn es sich irgendwie einrichten ließ, bezog er Kinder auch in keine seiner Kalkulationen ein.

„Nein.“ Anas Lippen zuckten kurz, amüsiert vielleicht. „Sie mag das Zeremoniell. Und die Geschenke.“

Anas Tochter begann gelangweilt zu zappeln: Jack bemerkte eine Gasmaske Marke Eigenbau in ihrem Nacken, auch Ana trug eine am Gürtel. Vermutlich hatte die Siedlung – die Queen bevorzugte den Namen 'Junk City', als gäbe es noch irgendwo Städte – einen eigenen Verteidigungsgürtel; speziell zusammengestelltes Giftgas, das normale Gasmasken nicht zur Gänze ausfilterten? Trittfallen mit Neurotoxinen? Die 'Hexe' hatte einen furchterregenden Ruf, aber Jack hatte keine konkrete Beschreibung, wie ihre Gifte wirkten.

„Dann haben wir ja Glück!“ Weaver warf Jack ein strahlendes Lächeln zu und rückte seinen Arm voll bunter, aber enorm stacheliger Ödland-Disteln zurecht. Wie er sie schälte, war eins seiner hundert Geheimnisse, die Jack nicht lüften wollte.

Ana ließ noch einen langen Moment verstreichen, ohne sie einzuladen, sich ihr anzuschließen; dann neigte sie knapp den Kopf und streckte gleichzeitig die Hand aus, damit ihre Tochter sie ergriff. Das Mädchen verzog mürrisch den Mund und nahm sie, drehte sich aber fast sofort zu ihren Besuchern um.

„Ihr müsst einen langen Weg hinter euch haben,“ sagte Ana langsam, wobei sie Jack ansah. Dennoch war es Weaver, der antwortete. „Oh, ein bisschen. Heutzutage muss man ständig Umwege nehmen, weil die alten Wege gefährlicher geworden sind.“

„Kann dein Freund auch reden?“ Anas Stimme hatte eine gereizte Note, die Jack zu seiner eigenen Überraschung ein Grinsen unterdrücken ließ. Etwas an ihrer Art war... angenehm. Und das war noch viel seltener als sichere Wege.

„Soldier? Oh, meistens sagt er mir, dass ich zu viel rede. Ich bin der, der redet. Er passt auf.“

Was dazu führte, dass Menschen Jack für dumm und/oder schwerhörig hielten, und das kam ihnen beiden entgegen. Ana schien diesen Schluss noch nicht gezogen haben, doch auch sie schien zu denken, dass Jack leichter auszuhorchen war.

Sie ließ die Hand ihrer Tochter aus ihrer gleiten, und das Mädchen drängte sich erleichtert zurück, um bohrende Fragen zu stellen – wie viele Kugeln Jack gebraucht hatte, um den Hirsch abzuschießen, was das für eine Waffe war, was sie von Junker Queen wollten, und allerhand mehr. Weaver antwortete ihr meist, Jack nur einsilbig.

In dem Moment, in dem Weaver sanft nachzuhaken begann, holte Ana ihre Tochter mit einer knappen Geste zurück an ihre Seite. „Wir sind da,“ verkündete sie warnend.

Junk City war... nicht beeindruckend, auf den ersten Blick. Eine kleine Siedlung, die sich an einen Hügel schmiegte, den sie befestigt hatte. Die Hälfte der Siedlung war eine Baustelle, sowohl Neubau als auch Abriss von Strukturen, die vermutlich aus Howls Herrschaft stammten.

Aber es war mehr als eine halbgare Hüttensammlung.

Junk City verfügte über echten Stahl, gewonnen aus den Silos der landwirtschaftlich geprägten Umgebung, die mit viel Mühe hergebracht worden waren. Statt dieses Material ausschließlich für Behausungen zu verwenden, sah Jack Schächte und Ansätze von Fundamenten, die darauf hindeuteten, dass die Siedlung untertunnelt war. Immenser Arbeitsaufwand, aber deutlich mehr Schutz vor Strahlungsstürmen und wilden Tieren. Was aus dem Boden ragte, waren etwas weniger als mannshohe Kuppeln oder Kästen, der Rest war vermutlich unterirdisch. Und aus anderem Material, auch wenn Jack nicht wusste, welchem.

Stattdessen verfügte Junk City im Kern über ein Hauptgebäude mit Gewächshausanteil, gebaut aus einem einzelnen aufgeschlitzten Getreidesilo, das als liegender und verankerter Zylinder längs lag. Der wehrhafteste Teil, zumindest dem Anschein nach, und sogar angestrichen in einem schmutzigen Blau.

Der Hügel über der Siedlung war befestigt und gleichzeitig mit Regensammlern bestückt, dunkle Flächen wiesen darauf hin, dass man dem verseuchten Boden erfolgreich Ackerfläche abgetrotzt hatte.

Kein Wunder, dass Howl diesen Ort zurückwollte. Gleichzeitig undenkbar, dass er das alles geschaffen hatte. Es war Generationenarbeit... und entweder hatte Jack sich enorm in ihm geirrt, oder Howl hatte ihnen jemanden verschwiegen.

Odessa Stone hatte ihn nicht nur verdrängt, sie hatte auch Personen rekrutiert, die nicht bloß für die Eroberung wertvoll waren, sondern auch für den Ausbau. Wenn diese Leute auf ihren Personenkult eingeschworen waren, wäre das...

Rußgeschwärzte Betonwände. Explodierte Selbstschussanlagen. Der Gestank des Todes. Niemand darf überleben. Keine Ausnahmen, egal wie nützlich. Egal wie vertraut.

„...-dier? Komm, komm hier entlang.“

Jack hasste den sanften Tonfall von Weavers Stimme. Hasste es, dass er sich hatte anmerken lassen, wie seine Gedanken abwanderten. Hasste es, dass es keine Berührung gab, die er ausschlagen konnte. Anscheinend wusste Weaver sehr gut, wann er in echter Gefahr wäre, seine Finger beschädigt zu sehen.

„Ihr müsst eure Waffen nicht ablegen. Junker Queen hat nämlich keine Angst vor euch!“ Das Mädchen strahlte sie triumphierend an, allerdings eher stolz als hämisch. Dafür, dass Jack Kinder eigentlich nicht leiden konnte, war sie ihm erstaunlich sympathisch.

Etwas in Anas Gesicht zuckte, und sie sah sich um. Jack hatte kaum bemerkt, wie sie Junk City betraten, doch noch trennte sie ein gutes Stück zum Hauptgebäude... also dem interessantesten Teil der Siedlung. Dem 'Hexenkessel', so wurde gemunkelt.

Es gab keine Mauern, nur einzelne Barrikaden. Jack hatte sich davon ablenken lassen, diese genau zu analysieren, und es ärgerte ihn. Dieser Teil war sein Job – Weaver kannte sich mit Konstruktionen nicht aus, und auch der chemische Geruch in der Luft war eher Jacks Ballpark als seiner.

Es waren wenige Siedler draußen: sie beobachteten ihre Gäste mit dem üblichen Maß an Misstrauen, aber niemand richtete eine Waffe auf sie oder folgte ihnen wachsam. Aus einer offenen Werkstatt kam leise, blecherne Musik, ein Geruch von geröstetem Gemüse mischte sich unter die Noten von Chlor und Ozon.

Weaver fand einen leeren Handkarren und lud seinen Armvoll 'Blumen' darin ab, klopfte ein paar Stacheln von seiner Kleidung. Letztlich war der Drang, die Arme freizuhaben und sich wehren zu können, zu stark – Jack hielt es ihm nicht vor, doch er sah, dass es Ana Genugtuung verschaffte. Offensichtlich zog sie es vor, wenn Besuch etwas... ängstlicher war.

„Also!“ Weaver drehte unbefangen eine gelbliche Kaktusblüte in den Fingern. „Wie läuft das Hofzeremoniell ab? Müssen wir noch bei jemandem vorsprechen? Oh, bei einem Herold oder so?“

Die darunter liegende Frage war 'Ist Junker Queen hier', denn das war letztlich der Stimmungstest. Sie wusste, dass Howl lebte und Anhänger hatte, und dass diese Siedlung Aufmerksamkeit auf sich zog. Gleichzeitig war ihre Gefolgschaft nicht so groß, dass sie die ganze Zeit hier bleiben konnte.

„Ihr müsst nur warten,“ erwiderte Ana knapp.

Nicht hier also. Oder nicht präsentabel. Jack konnte erkennen, dass Ana sich selbst vergewissern wollte, es aber nicht riskieren konnte, Fremde mit ihrer Tochter allein zu lassen, selbst in Junk City. Der harte Kern von Personen, die alles am Laufen hielten, war also klein und maximal gestreckt.

„In Ordnung. Gibt es einen Hofnarren oder so? Ich hatte gehofft, es gibt einen.“ Weaver lehnte sich gegen den Handkarren, entspannt und unbesorgt, oder eben eine überzeugende Darstellung davon.

Das Mädchen verzog das Gesicht. „Du darfst nicht von dem Hofnarren sprechen.“

„Warum nicht?“

„Fareeha,“ schnalzte Ana mahnend, als ihre Tochter bereits aufgeregt den Mund öffnete.

In diesem Moment und dem folgenden geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Weaver streckte die Hand nach Fareeha aus, zwischen seinen Fingern schillerte eine Blüte: wahrscheinlich einer seiner Blume-hinterm-Ohr-Taschenspielertricks, mit denen er Kinder gern unterhielt. Fareeha war durch die plötzliche Ermahnung ihrer Mutter jedoch abgelenkt, sodass sie erschrocken zusammenzuckte, als Weaver sie berührte.

Etwas – jemand – tauchte wie aus dem Nichts auf der anderen Seite des Handkarrens auf, eine dunkle Mündung zeigte auf Weavers Kopf. Vielleicht nur eine Drohgebärde.

Jack riskierte das nicht. Er hatte zu wenig Zeit, um nach seinem Gewehr zu greifen, also schwang er die Waffe, die er hatte, und schleuderte mit einem gepressten Grunzen etliche Zentner totes, geweihbewehrtes Fleisch auf die Bedrohung.

Ana riss Fareeha beiseite, Weaver ließ sich sofort fallen: und der Hirsch kollidierte mit zwei wuchtigen Schrotschüssen, die Fleisch, Fell und Knochen auf jeden im Umkreis regnen ließen.

Für eine lange Sekunde rührte sich niemand. Jack blinzelte ein paar Tropfen zähen Blutes von seinen Wimpern und starrte in die grinsende Maske des anderen Mannes.

Er war mittelgroß und muskulös, von Kopf bis Fuß gehüllt in Lederflicken, derben Stoff, Bleiplatten und stacheliges Metall, ohne die Konturen seines Körpers dabei zu verbergen. Die großen, schräg angesetzten Augen der Maske waren verspiegelt, das tatsächliche Organ kaum zu sehen bei den dramatischen Farben – auch wenn Jack den Blick auf sich spüren konnte wie heiße Mittagssonne. Die Mündungen der Schrotflinten rauchten noch, und der Mann ließ seine Waffen erhoben.

Vielleicht hatte er auch vergessen, sie zu senken. Vielleicht war er so gebannt von Jacks von Fleischfetzen und geronnenem Blut bedecktem Anblick wie Jack von seinem, den mächtigen Oberschenkeln und Schultern, der unmöglich schmalen Taille. Die Luft schien sich mit statischem Knistern zu laden.

Dann riss Fareeha sich von Ana los. „Luchador!“

Der Mann ließ die Schrotflinten sinken: ein Teil von Jacks lahmgelegtem Gehirn bemerkte, dass die Läufe verdickt waren und vermutlich trotz der abgefeuerten Schüsse noch Ladung haben konnten – in jedem Fall richtete er sie nicht auf das Mädchen, das aufgeregt auf und ab hüpfte. „Du bist zurück!“

Jack registrierte, wie Weaver aufstand und einen Fleischlappen von seinem Kopf pellte, konnte seinen Blick aber nicht ganz von 'Luchador' ziehen, als wäre da ein Gewicht fixiert. Hitze kribbelte unter seiner Kleidung und ließ Schweiß auf seiner Stirn prickeln.

„Du denkst an Sex mit ihm, oder?“ flüsterte Weaver ihm zu, beinahe unhörbar, nachdem so nah an ihnen beiden eine verstärkte Schrotladung abgefeuert worden war. „Selbst ich denke dran, und ich habe zerfetzten Hirsch in den Haaren.“

„Er hat auf dich geschossen,“ erwiderte Jack mechanisch, verfolgte wie der Mann seine Waffen einsteckte, ohne Jack aus den Augen zu lassen.

„Ich wüsste nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.“ Weaver kämmte mit den Fingern einen Fellrest weg. „Allenfalls heißt es, dass es wirklich gut wird.“

Schockierenderweise musste Jack ihm darin zustimmen: und es beschwor nicht einmal Gabriels Bild vor seinem inneren Auge, widerwillig beeindruckt, die dunklen Augen glänzend.

(Jetzt doch. Aber... andere Bilder diesmal.)

Bevor er sich allerdings damit auseinandersetzen konnte, tauchte Junker Queen auf.

Es war erstaunlich, dass ihr Ruf nicht übertrieben war: sie war wirklich eine Riesin, und sie ließ es provokant an Rüstung fehlen, als sorgte sie sich nicht um Verletzungen. Muskulös, aber nicht massig, unauslöschbare Zeichen einer Zeit, in der sie als Heranwachsende im erbarmungslosen Ödland überlebt hatte mit der Wahl zwischen Hunger und Gift.

Möglich, dass sie eine Mutantin war. Aber sie war noch nicht grün, und Jack hatte zweifelhaftere Allianzen als das. Wichtiger war, wie schnell sie eingetroffen war, während gleichzeitig ihre abgesägte Schrotflinte noch im Holster hing. Eine ihre Waffe umklammernde, verunsicherte Anführerin war ein schlechtes Zeichen, doch nur Junker Queens elektronischer Magnet am Unterarm brummte bedrohlich, ihr Messer schwebte in dessen Orbit.

„Oh Scheiße, bin ich zu spät zur Party?“

Sie grinste und breitete die Arme aus – dann fiel ihr Blick auf Weaver. Er hörte auf, Knochensplitter auszukämmen, und lächelte ihr verlegen zu: es war das Lächeln, das Jack für gewöhnlich alleinige Herrschaft über ihr Schlafquartier schenkte, und der Art nach, wie Junker Queen die Zähne in die Unterlippe grub, war das auch diesmal der Fall.

Er sagte sich, dass der Luchador nicht dabei anstarrte. Vielleicht würde einfach niemand ein Gästequartier brauchen.

„Jedenfalls ist dein Tribut schon zermatscht,“ bemerkte Ana trocken, doch Junker Queen grunzte achtlos und warf der Handkarre mit zerdrückten Blumen und zerfetztem Kadaver einen wohlwollenden Blick zu. „Ach was, das bisschen Schrot schadet nicht – ich mag's, wenn's knirscht. Gut für die Knochen, eh, kleiner Skorpion?“

Fareeha kicherte und nickte, bis sie ein vielsagender Blick ihrer Mutter traf.

„Soldier und Weaver,“ stellte Ana sie vor. „Neugierige Nachbarn, sie hatten sich angekündigt.“

Luchador stieß ein leises Zischen aus und trat neben Junker Queen: Jack war in den Bann geschlagen von der Art, wie er sich bewegte, fließend und ruckartig zugleich. Sein Mund war trocken, und dieses eine Mal war er froh, dass Weaver derjenige von ihnen war, der redete.

„Es ist uns eine Ehre, vom ganzen Hof begrüßt zu werden! Die Königin, die Hexe und der Henker.“ Er zwinkerte Fareeha zu. „Und die Prinzessin, schätze ich.“

„Die Wächterin,“ korrigierte sie ihn ärgerlich, und Junker Queen lachte. Es war das erste Mal, dass es Jack gelang, ihr seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, anstatt Luchadors bohrenden Blick auf sich seinem Körper in sich aufzunehmen.

Weil er spürte, wie der Magnet lauter brummte und das Messer sich in Junker Queens Handfläche schmiegte.

Etwas hatte sich verändert, seit sie Kontakt aufgenommen hatten.

„So,“ grollte Odessa Stone gedehnt. „Und jetzt sagt mir, warum ich euch nicht hier um jetzt die Schädel wegblasen soll.“